Die Vereinigten Staaten von Europa und das Ende des Grundgesetzes

Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz ruft dieser Tage die Vereinigten Staaten von Europa aus, spätestens 2025 soll es soweit sein und Deutschland in einem gemeinsamen Staatenverbund aufgehen. Gut, soweit ist der Chef der 20%-Partei nicht gegangen, die sich anschickt, nicht nur Deutschlands Geschicke in den nächsten Jahren zu bestimmen, sondern gleich der ganzen EU. Es lässt sich schon nicht mehr mit Hybris umschreiben, wenn sich der gerade erst fulminant gescheiterte Kanzlerkandidat und Ex-Bürgermeister von Würselen anschickt, Führungskraft auf internationalem Parkett zu beweisen, wo Schulz sich nicht mal traut, seiner eigenen Partei gegenüber seine Vorstellungen von einer Regierung zu präsentieren. Vor dem verzweifelten politischen Harakiri-Piloten breitete jedoch bereits der französischen Präsident Emanuel Macron seine Vision der europäischen Institutionen aus, womit die Angelegenheit wesentlich mehr Gewicht erhält. So lohnt sich ein Blick auf die demokratischen und vor allem verfassungsrechtlichen Implikationen, die mit den Kernvorstellungen eines neuen Staatswesens Europa einhergehen.

Seit Jahren dehnt die deutsche Politik die Grenzen der Verfassung im Rahmen der Europolitik. Bei jeder neuen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht sind die Vertreter der Regierung höchst unsicher, ob die Hüter des Grundgesetzes nun das Stoppschild setzen, das längst erwartet wird. Selbst in der so europafreundlichen SPD war bereits 2012 die Erkenntnis gewachsen, dass die Grenzen der Verfassung mit bilateralen Schuldabkommen und der Übertragung eines Teils der deutschen Steuereinnahmen auf Brüsseler Schuldentöpfe erreicht seien. Der junge Charismatiker im Elysee bringt die hiesige Politik nun in Zugzwang, eine Debatte zu führen, um die sich Politikergenerationen seit vielen Jahren drücken. Wie viel Europa wollen die Deutschen und sind sie dafür bereit, ihr Grundgesetz und ihre verfassungsrechtliche Ordnung zu opfern?

Wie jede Verfassung ist das Grundgesetz für ein festes Staatsgebiet gemacht. Eine Verfassung bestimmt, über welchen territorialen Bereich und über welchen Personenkreis staatliche Macht ausgeübt wird. Die Väter des Grundgesetzes schrieben dieses für die westlichen Besatzungszonen und hielten in Artikel 146 die Möglichkeit offen, das vom Parlamentarischen Rat in Bonn erarbeitete Gesetzeswerk in eine Verfassung aufgehen zu lassen, die für alle Deutschen Gültigkeit besitzt. Im Unterschied zu anderen staatlichen Rahmenwerken ist das Grundgesetz so mit einem Verfallsdatum versehen.

Neben den Grundrechten wurde die staatliche Ordnung mit seinen Institutionen sowie in den Artikeln 70 folgende die Gesetzgebungsbefugnis geregelt. Dort ist abschließend bestimmt, welche Ebenen welche gesetzgeberische Macht ausüben dürfen. Dies betrifft insbesondere das Finanzwesen mitsamt der Steuererhebungsbefugnis. Daraus ergibt sich, dass allein Gebietskörperschaften auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik zur Erhebung von Steuern berechtigt sind. Abschließend regelt das Grundgesetz, welche Arten von Steuern möglich sind und welche Sachverhalte besteuert werden können.

In den letzten Jahrzehnten bemühten sich die EU-Mitglieder im Konzert mit der Brüsseler Verwaltungsbürokratie, hier der EU-Kommission, Aufgaben der einzelstaatlichen Ebene auf die Gemeinschaftsebene zu ziehen. Erklärtes Ziel, so wie dies zuletzt nacheinander Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Frankreichs Präsident Macron und nun der SPD-Vorsitzende Martin Schulz deutlich gemacht haben, war und ist der Bau eines neuen Staatswesens genannt die Vereinigten Staaten von Europa. Im Unterschied zu einem Staatenbund, an den z.B. Beiträge entrichtet werden, aber die endgültige Macht bei den Mitgliedern verbleibt, hat ein Staat die Hoheit für seine Finanzen wie das Recht Steuern zu erheben. Mit der Errichtung der Euro-Rettungsfonds EFSM, EFSF und zuletzt ESM übertrug die Bundesrepublik einen Teil ihrer Einnahmen auf eine europäische Verwaltung, die damit dem Mandat des Deutschen Bundestages entzogen worden wären. Aus diesem Grund verlangten die Verfassungsrichter weitreichende Kontrollrechte für die Abgeordneten mitsamt der Möglichkeit, von dem Fonds-Regime zurücktreten zu können.

Nach dem Willen von Macron und Juncker soll Brüssel zukünftig eigene Steuergesetzgebungsbefugnisse erhalten. Dazu sollen neue Steuern geschaffen werden. Und natürlich gehört es zur Souveränität eines Staates, dass nach Genehmigung des Parlaments, in diesem Fall also der Straßburger Abgeordneten, Höhe und damit Einnahmen variiert werden können. Solche Steuern und Finanzen wären dem unmittelbaren Zugriff des Deutschen Bundestages als alleiniger Vertreterin des Deutschen Volkes entzogen. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte würde eine übergeordnete Macht Gesetzgebungsbefugnis über die Deutschen ausüben, der sie sich nicht durch Wahlen entziehen oder nur beeinflussen können. Denn auch die Wahlen zum Europaparlament wären nur relativ, da der deutsche Souverän in dieser Institution nicht allein und auch nicht mit Mehrheit vertreten wäre.

Damit erscheint ausgeschlossen, dass eine Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen auf die Europäische Union mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Ratifizierung einer entsprechenden Richtlinie durch den Deutschen Bundestag mit einfacher Mehrheit würde dessen Befugnisse überschreiten. Allein schon die abschließende Bestimmung der gesetzgebenen Gebietskörperschaften und die erschöpfende Aufzählung wie Aufteilung des Steueraufkommens im Grundgesetz würden als Mindesterfordernis eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Reichstag und der Länderkammer setzen. Die Karlsruher Richter haben jedoch schon in den Urteilen zu den Rettungsfonds angedeutet, dass eine Übertragung von Einnahmen und Steuerbefugnissen auf eine andere staatliche Ebene allein vom Souverän, dem deutschen Volk in seiner Gesamtheit, bestimmt werden kann. Schließlich überschreitet eine solche Aufgabenverlagerung die Grenzen des Grundgesetzes selbst, es wäre eine neue Verfassung erforderlich.

Die Verfassungsrichter haben dies in öffentlichen Verlautbarungen häufig ausgeführt. So meinte der Vizepräsident Ferdinand Kirchhof:

„Verfassungsrechtlich bildet die Budgethoheit eine Kernkompetenz des Parlaments. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass ein Brüsseler Sparkommissar über nationale Haushalte entscheidet.

Der ehemalige Präsident des Gerichts Hans-Jürgen Papier meinte, das Grundgesetz schließe aus, „dass Deutschland durch permanente Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union die eigene staatliche Souveränität verliert und Teil eines europäischen Bundesstaates wird“.

Im Urteil zur Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages machte Karlsruhe deutlich, dass das Grundgesetz zwar die Beteiligung am Staatenbund befürworte, nicht jedoch das Aufgehen in einem europäischen Bundesstaat unter Aufgabe nationaler Souveränität. Dazu bedürfe es einer neuen Verfassung auf Grundlage einer Volksabstimmung.

Martin Schulz streut seinen Anhängern also Sand in die Augen, wenn er sich über die schwerwiegenden und weitreichenden Implikationen seiner Vision der Vereinigten Staaten von Europa hinwegsetzt. Ob es dazu kommt, liegt nicht in der Hand einer mittelgroßen Partei in Deutschland, nicht mal in der der politischen Kaste. Wer die Vereinigten Staaten von Europa möchte und dafür umfangreich auf deutsche Souveränitätsrechte zu verzichten bereit ist, muss dazu die Bevölkerung befragen. Die haben in einer ersten Schnellumfrage ihre Meinung deutlich gemacht, was sie von den Vorschlägen halten: nichts.

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  • Nicolai 10. Dezember 2017, 21:38

    Frankreichs Präsident Macron und nun der SPD-Vorsitzende Macron

    Ein vielbeschäftigter Mensch, der Herr Macron 😉

    Zum Inhalt ingesamt: dass ein Herr Pietsch so kommentiert ist wenig überraschend. Trotzdem ist dass, was Schulz macht, sehr gut. Es geht darum, Politik zu machen und das bedeutet eine ernsthafte Diskussion loszutreten. Meinungen werden durch Diskussionen und Überzeugungsarbeit schließlich andauernd geändert.

    Ich für meinen Teil finde eine weitere Vertiefung der Europäischen Union sinnvoll (ob man das nun „Vereinigte Staaten von Europe“ nennt oder nicht). Realistisch gesehen ist das der beste Weg, um die Eurozone wirtschaftlich gut aufzustellen – die Währungsunion kann langfristig gut funktionieren, aber nur gekoppelt mit einer Fiskalunion. Das bedeutet, dass ein wirtschaftlich signifikanter zentraler Haushalt aufgebaut wird, mit eigenen Steuern und eigenen Ausgaben. Makroökonomisch wäre auch eine Übertragung von Sozialstaatsaufgaben auf diesen zentralen Haushalt sinnvoll.

    • In Dubio 10. Dezember 2017, 22:31

      Frankreichs Präsident Macron und nun der SPD-Vorsitzende Macron
      Ein vielbeschäftigter Mensch, der Herr Macron

      Danke! Ich hab’s korrigiert.

      Ich für meinen Teil finde eine weitere Vertiefung der Europäischen Union sinnvoll.

      Ich bin da noch nicht endgültig festgelegt, mit der Tendenz zur Vertiefung. Aber das geht eben nur über eine Volksabstimmung, da darf man als Europa-Enthusiast keine Angst vor dem Bürger haben.

    • Stefan Sasse 11. Dezember 2017, 08:42

      Stimme dir völlig zu.

  • Erwin Gabriel 10. Dezember 2017, 23:34

    Ich bin gegen alles, das man nicht rückgängig machen kann.

    • Jens 20. Dezember 2017, 16:56

      Sehr gutes Argument in meinen Augen.

  • Ralf 11. Dezember 2017, 00:53

    wenn sich der gerade erst fulminant gescheiterte Kanzlerkandidat und Ex-Bürgermeister von Würselen

    Was Martin Schulz zu Europa sagt, sagt er nicht als gescheiterter Kanzlerkandidat und schon garnicht als ehemaliger Buergermeister von Wuerselen, sondern als Vorsitzender der zweitgroessten Partei Deutschlands, die vermutlich bald Teil der naechsten Bundesregierung sein wird. Moeglicherweise ist Schulz bald sogar Vizekanzler. Daher kommt seine Autoritaet. Sie sollten das nicht immer mit rhetorischen Spielchen verwischen.

    würden als Mindesterfordernis eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Reichstag und der Länderkammer setzen

    Sie meinen den Bundestag, nicht den Reichstag.

    Wer die Vereinigten Staaten von Europa möchte und dafür umfangreich auf deutsche Souveränitätsrechte zu verzichten bereit ist, muss dazu die Bevölkerung befragen.

    Das ist richtig. An den Buergern ist, was die EU angeht, schon viel zu viel vorbei entschieden worden. Aber bevor man die Buerger befragt, sollte es erst einmal eine Kampagne geben, in der alle befuerwortenden und alle gegnerischen Argumente gehoert werden. Dazu sind unsere Politiker schliesslich da. Dass sie am Willens- und Meinungsprozess in der Gesellschaft mitwirken. Und dann sollen alle mal ihre Vision fuer die Zukunft auf den Tisch legen.

    Die Gegner der EU koennen dann fuer ihre Vision eines in der Welt immer kleiner und unbedeutender werdenden Deutschlands kaempfen, das bei wegbrechendem internationalem Einfluss Spielball der Maechtigeren wird. Und diese Maechtigeren sind die USA und China und bald vielleicht sogar Indien. Die werden die Spielregeln bestimmen – die Wirtschaftsordnung, wer mit wem Krieg fuehrt etc. – und wir werden tanzen muessen.

    Im Gegensatz dazu wird die Vision eines starken, handlungsfaehigen, geeinten Europas stehen, das als Grossmacht den USA und China ebenbuertig ist und mit am Tisch der Maechtigen sitzen und die internationalen Spielregeln mitbestimmen wird. Innerhalb dieser europaeischen Grossmacht wuerden gerade die Deutschen immensen Einfluss haben. Unsere europaeische Identitaet, unser Sozialsstaatsgedanke (einzigartig auf der Welt!), unser Glaube an den Rechtsstaat und die Demokratie (auch zunehmend einzigartig auf der Welt!) und damit unsere Lebenskultur haetten eine Chance zu ueberleben.

    Lassen Sie uns diese Debatte fuehren. Und ja, am Ende muessen die Menschen JA oder NEIN sagen. Ich sehe dem gelassen entgegen. Gerade wenn die deutschen Buerger durch den Brexit bald konkretes Anschauungsmaterial bekommen werden, was es heisst klein, isoliert und auf verlorenem Posten in direktem Wettbewerb mit weitaus Maechtigeren zu stehen …

    An dieser Stelle nochmal herzlichen Dank an Grossbritannien!

    • In Dubio 11. Dezember 2017, 14:48

      Welche vermutliche Regierung? Bisher hat Herr Schulz nur die Erlaubnis eines Teenagers bekommen, mit den Schwarzen auch nach 20 Uhr reden zu dürfen. So unmündig war nie ein Parteivorsitzender. Stellen Sie sich vor, Christian Lindner hätte sich kurz nach dem 24. September hingestellt und erklärt, die EU werde wieder in die vertraglichen Grenzen zurückgeführt und die Sicherungsfonds abgewickelt. Gut, wir beide wissen, was Sie von so einer Anmaßung gehalten hätten. Was aber macht den Unterschied zwischen den 5 Millionen, die der FDP ihre Stimme gaben und jenen 9,5 Millionen, die der SPD den Vorzug gaben?

      Mir ging es mit dem Artikel nicht um ein politisches Statement pro oder contra Vereinigte Staaten von Europa. Mir ging es aufzuzeigen, dass wir mit den nächsten Schritten die Grenzen der Verfassung definitiv die Grenzen des Grundgesetzes verlassen, an denen wir zuletzt jahrelang langlavierten. Ab jetzt geht es darum, für breite Mehrheiten zu werben. Das sollte gerade ein Politiker verinnerlicht haben, der selbst für jeden machtpolitischen Schritt seine Parteimitglieder befragt.

      Die großen Wachstumsregionen der Welt – Nordamerika, China, Indien und die Tigerstaaten – ziehen ihre Kraft aus einer sehr liberalen Unternehmenspolitik und Angebotspolitik. Europa schwächelt seit vielen Jahren, weil hohe Sozialausgaben Investitionen und Risikobereitschaft hemmen. Ich glaube nicht, dass wir beide nur annähernd gemeinsame Vorstellungen davon haben, wie ein Vertiefung der Europäischen Union aussehen sollte.

      • Ralf 11. Dezember 2017, 19:16

        Welche vermutliche Regierung?

        Gegenwaertig gehen die meisten Beobachter davon aus, dass eine Grosse Koalition kommen wird. Eigentlich offensichtlich dass Herr Schulz als Parteivorsitzender der SPD dann eine Schluesselrolle spielen wird. Selbst im unwahrscheinlicheren Fall einer SPD-tolerierten CDU-Minderheitsregierung wuerde Herr Schulz eine Schluesselrolle spielen. Was Herr Schulz sagt und denkt, sollte also alle politischen Beobachter interessieren. Auch Sie.

        Was aber macht den Unterschied zwischen den 5 Millionen, die der FDP ihre Stimme gaben und jenen 9,5 Millionen, die der SPD den Vorzug gaben?

        Also erstens hat Herr Lindner (genauso wie Herr Schulz) als Parteivorsitzender nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, eine grosse Vision fuer die Zukunft Deutschlands und der EU vorzulegen, aus der Perspektive der eigenen Partei. Da die Parteien (in 2017 schon wieder) verpasst haben im Wahlkampf mal ueber Inhalte zu diskutieren, waere es schoen wenigstens nach der Wahl zu erfahren, wo sie politische eigentlich stehen, ob sie Ziele haben und, wenn ja, was diese Ziele sind.

        Im uebrigen, aber soviel Mathematik koennen Sie auch, sind 5 Millionen gerade mal knapp die Haelfte von 9,5 Millionen. Und das in einem Fall, in dem die SPD nach einer Grossen Koalition stark „underperformed“ hat, waehrend die FDP, massiv von der Grossen Koalition profitierend, nahezu ihr Rekordergebnis eingefahren hat.

        Mir ging es aufzuzeigen, dass wir mit den nächsten Schritten die Grenzen der Verfassung definitiv die Grenzen des Grundgesetzes verlassen, an denen wir zuletzt jahrelang langlavierten. Ab jetzt geht es darum, für breite Mehrheiten zu werben.

        Ich glaube da hat Ihnen hier in diesem Punkt bisher noch niemand widersprochen.

        Ich glaube nicht, dass wir beide nur annähernd gemeinsame Vorstellungen davon haben, wie ein Vertiefung der Europäischen Union aussehen sollte.

        Stimmt. Aber genau deshalb sollten wir (und die gesamte deutsche Gesellschaft) doch jetzt mal ueber moegliche Zukunftsvisionen diskutieren. Und dazu muss irgendwer das Thema endlich mal auf’s Tapet bringen. Ist doch voellig wurscht, ob das nun Martin Schulz tut oder weiss der Teufel wer …

        • In Dubio 11. Dezember 2017, 20:01

          Gegenwärtig gehen die meisten Beobachter davon aus, dass eine Große Koalition kommen wird.

          Gegenwärtig gehen vor allem die meisten Beobachter davon aus, dass der Drops noch nicht gelutscht ist, was viel mit der SPD des Martin Schulz zu tun hat.

          Nach allem, was Herr Schulz über die CDU und Angela Merkel gesagt hat, ist seine führende Rolle in einer GroKo nahezu ausgeschlossen. In den mir bekannten Personalspekulationen wird ihm auch keine Rolle zugemessen.

          Was Herr Schulz sagt und denkt, sollte also alle politischen Beobachter interessieren. Auch Sie.

          Warum mich das nicht interessiert, habe ich hoffentlich hinreichend deutlich gemacht. Ein Politiker, der einen Parteitag fragen muss, ob er Pinkeln gehen darf, hat wohl nicht nur in meinen Augen keine machtpolitische Kompetenz.

          Also erstens hat Herr Lindner (genauso wie Herr Schulz) als Parteivorsitzender nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, eine große Vision für die Zukunft Deutschlands und der EU vorzulegen, aus der Perspektive der eigenen Partei.

          Im Unterschied zu Herrn Schulz hat Christian Lindner sehr wohl seine Vorstellungen von Europa im Wahlkampf ausgebreitet. Diese orientieren sich an der Verfassungslage und dem, was die meisten EU-Staaten noch mitzutragen bereit sind, nämlich den Staatenbund. Und es ist eine der Punkte, woran die FDP die Sondierungsgespräche platzen ließ. Muss Ihnen nicht gefallen, sollten Sie aber respektieren.

          Im übrigen, aber soviel Mathematik können Sie auch, sind 5 Millionen gerade mal knapp die Hälfte von 9,5 Millionen. Und das in einem Fall, in dem die SPD nach einer Großen Koalition stark „underperformed“ hat, während die FDP, massiv von der Großen Koalition profitierend, nahezu ihr Rekordergebnis eingefahren hat.

          Schon wieder so viele Annahmen. Wie kommen Sie darauf, dass die SPD underperformt hätte? Weder legen das die Wahlergebnisse der letzten 10 Jahre noch die aktuellen Umfragen nahe. Die FDP kam immerhin außerhalb des Parlaments, es wäre schon seltsam gewesen, hätte sie wieder wie 2009 15% erreicht.

          Stimmt. Aber genau deshalb sollten wir (und die gesamte deutsche Gesellschaft) doch jetzt mal über mögliche Zukunftsvisionen diskutieren.

          Genau deswegen diskutiere ich ja so gerne mit Ihnen. Nur sehe ich auf Ihrer Seite keine Bewegung. Ich erkenne nicht, wo Sie Abstriche von Ihren doch sehr exponierten Vorstellungen machen würden um auf Skeptiker (zu denen ich nicht automatisch zähle) zu gewinnen. Welcher deutsche Politiker will zum Beispiel in die Bütt und den Wählern ein Verfassungswerk vorstellen mit der Zusicherung, dass dieses Regelwerk sowohl dem Buchstaben als auch dem Geiste nach gilt? Nach den Erfahrungen mit den Maastricht-Verträgen?

          Es wird sich noch rächen, dass auf europäischer Ebene so lax mit beschlossenen Regeln umgegangen wurde. Und gerade in Deutschland lachen die Befürworter der Regelbrüche den bürgerlichen Kritikern ins Gesicht, wie man eigentlich so blöd sein könne zu glauben, es könne ein Währungsunion ohne Transferunion geben. Ja, wie konnte man so blöd sein? Immerhin wurde das der Öffentlichkeit wie den obersten Richtern des Landes erzählt und zugesagt.

          • Ralf 12. Dezember 2017, 03:27

            Ein Politiker, der einen Parteitag fragen muss, ob er Pinkeln gehen darf, hat wohl nicht nur in meinen Augen keine machtpolitische Kompetenz

            Es geht im Augenblick nicht um „machtpolitische Kompetenz“ sondern darum, einen mutigen Vorschlag fuer die Zukunft zu machen und eine Debatte darueber anzustossen.

            Im Unterschied zu Herrn Schulz hat Christian Lindner sehr wohl seine Vorstellungen von Europa im Wahlkampf ausgebreitet. […] Muss Ihnen nicht gefallen, sollten Sie aber respektieren.

            Wo lesen Sie in meinem Zitat von oben …

            Also erstens hat Herr Lindner (genauso wie Herr Schulz) als Parteivorsitzender nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, eine grosse Vision fuer die Zukunft Deutschlands und der EU vorzulegen, aus der Perspektive der eigenen Partei.

            … heraus, dass ich nicht respektiere, dass Herr Lindner eine Meinung zur Europapolitik hat?

            Wie kommen Sie darauf, dass die SPD underperformt hätte? Weder legen das die Wahlergebnisse der letzten 10 Jahre noch die aktuellen Umfragen nahe.

            Die SPD lag 2012 noch einigermassen stabil bei zwischen 27% und 30%. Zwischen September 2013 und Januar 2016 lagen die Sozialdemokraten bei zwischen 24% und 28% und das trotz Grosser Koalition. Anschliessend erfolgte ein Absturz, der nur kurz durch den Schulz-Hype (waere ein tolles Wort des Jahres uebrigens!) unterbrochen wurde. Anschliessend landete die SPD bei der Bundestagswahl noch unterhalb dieses schlechten Niveaus. Schaut man auf diese Zahlen, dann waeren bei einem Wahlkampf, der nicht ganz so unterirdisch gefuehrt wird wie beim letzten Mal, durchaus um die 25%-26% fuer die SPD drin. So zumindest meine Schaetzung.

            Der „Schulz-Hype“, der die Sozialdemokraten kurz ueber 30% hob und sogar fuer ein paar Tage zur staerksten Partei machte, zeigt uebrigens auch, dass es ein gewisses Beduerfnis gibt, die CDU mit einer sozialeren Alternative abzuloesen. Dass dieses fruehe Momentum so rapide verpuffte, darf man dem Kandidaten ebenso anlasten wie der frappierenden Inkompetenz seiner Partei. Moeglich ist, dass sich das in Zukunft auch mal wieder aendert. Gerade in der Politik passiert oft sehr viel sehr schnell und sehr ueberraschend. Niemand hatte mit Donald Trump gerechnet. Niemand hatte mit dem Brexit gerechnet. Niemand hatte mit Emmanuel Macron gerechnet. Niemand hatte einen Pfifferling darauf gewettet, dass Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn einen nennenswerten Eindruck hinterlassen wuerden. Wer weiss, wen die SPD das naechste Mal ins Rennen schickt.

            Ach ja, und selbst mit dem Totalausfall Peer Steinbrueck holte die SPD 2013 noch fast 26%. Auch das macht Hoffnung auf mehr …

            Hier die Wahlumfragen (Sonntagsfragen) zur SPD als Uebersicht (gestohlen aus Stefan Sasses letztem Thread …)

            https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/sonntagsfrage/

            Ich erkenne nicht, wo Sie Abstriche von Ihren doch sehr exponierten Vorstellungen machen würden um auf Skeptiker (zu denen ich nicht automatisch zähle) zu gewinnen.

            Im Augenblick sind wir nicht in der Phase Abstriche zu machen und Kompromisse zu schliessen, sondern wir sollten erst einmal eine Bestandsaufnahme vornehmen und alle ihre Vision fuer die Zukunft vortragen lassen. Und eine breite Debatte fuehren. Wenn dann die ungefaehre Richtung feststeht, koennen wir anfangen darueber zu reden, wie man moeglichst vielen vieles recht machen kann …

            • In Dubio 12. Dezember 2017, 10:09

              Es geht im Augenblick nicht um „machtpolitische Kompetenz“ sondern darum, einen mutigen Vorschlag für die Zukunft zu machen und eine Debatte darüber anzustoßen.

              Nur dass das im Moment nicht seine Aufgabe ist.

              Ich bin in den letzten Wochen sehr skeptisch zu Wahlumfragen geworden und habe etwas geforscht. Tatsächlich ist das Datenmaterial außerordentlich mau, die Demoskopen stellen nicht mal Wiederholungsfragen, am Telefon werden immer andere Personen interviewt. Wie kann es sein, dass am Wahlsonntag die Prognose um 18 Uhr ziemlich exakt das endgültige Wahlergebnis abbildet, eine solche Genauigkeit aber noch 1-4 Tage vor dem Urnengang nicht möglich ist? Kein Institut hat den Absturz der Union und den Erfolg der FDP, Grünen und AfD vorhergesehen. Forsa prognostizierte noch 4 Tage vor der Wahl 23% für die SPD. Bei solchen Zahlen kann man verrückt werden. Selbst Civey, die eine Personalisierung der Daten vornehmen können, lagen deutlich daneben.

              Die einzig belastbaren Zahlen scheint also der Wahlsonntag zu liefern, was bei den Forschern intern auch zugegeben wird. Ansonsten befindet man sich weitgehend im Blindflug. Wie die Zahlen schon vermuten lassen, werden direkt nach einer Wahl die Ergebnisse fortgeschrieben – nachdem noch Tage zuvor ganz andere Werte veröffentlicht worden waren. Danach scheinen Schätzannahmen zu greifen. So liegt die FDP derzeit inklusive Fehlertoleranz bei 7-13 Prozent. Das lässt jede Wertung zu, von „hat erheblich vom Abbruch der Sondierungen profitiert“ bis „wurde deutlich abgestraft“. Ich will nicht glauben, sondern wissen. Meine Arbeit wird danach bewertet, wie genau ich wirtschaftliche Ergebnisse vorhersagen kann. Dazu bedarf es einer ständigen Verfeinerung der Instrumente. Doch in der Demoskopie scheint das schwer möglich. 1998 prognostizierten die Forscher noch in der Woche vor der Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden politischen Lager. Anschließend landete die SPD ihr Rekordergebnis, knapp war’s jedenfalls nicht.

              Der angebliche Schulz-Hype wurde nie durch Wahlen bestätigt. Schon bei der Saarland-Wahl direkt noch während des angeblichen Hypes waren im Ergebnis Ausläufer nicht zu messen. Man muss fragen: gibt es nicht auch andere Erklärungen für das Phänomen in den Umfragen? Machen Sie ein Experiment: stellen sie auf den Tisch eines Hörsaals eine Kiste mit angenehmen Farben, z.B. gefälliges Blau. Sagen Sie den Zuhörern, in der Kiste wäre etwas Neues drin. Nach Minuten des Nachdenkens befragen Sie Ihr Publikum, was es sich vom Inhalt verspricht. Nicht unwahrscheinlich, dass die Mehrheit zu Protokoll geben wird, dass sie sich davon etwas Positives versprechen.

              Im Augenblick sind wir nicht in der Phase Abstriche zu machen und Kompromisse zu schließen, sondern wir sollten erst einmal eine Bestandsaufnahme vornehmen und alle ihre Vision für die Zukunft vortragen lassen.

              Doch, genau dabei sind wir. Wir sind nicht im Brainstorming. Wir wissen doch längst, dass eine vertiefte Integration mit z.B. einer breiten Transfer- und Sozialunion auf absehbare Zeit nicht den Hauch einer Realisierungschance hat. Sie werden nicht Leute, die prinzipiell eine Gemeinschaft der Nationen befürworten, nicht damit gewinnen, dass Sie auf einer Schimäre beharren. Der Punkt ist, warum Sie immer einwerfen, es wäre nicht die Zeit, über Kompromisse nachzudenken, dass Sie von Ihren liebgewonnenen Vorstellungen niemals Abstand nehmen wollen. Wir werden niemals in eine Volksbefragung gehen können, die beinhaltet, wollt ihr ein Europa mit breiter Sozialunion? Das Ergebnis in vorhersehbar – heute und in fünf Jahren. Wir werden Neues entwerfen müssen, das Chancen der politischen und rechtlichen Realisierbarkeit hat. Dabei sind Haltungen, es wäre jetzt nicht die Zeit, Abstriche am eigenen Ideal zu machen, hinderlich auf dem Weg zur Lösung.

      • Rauschi 11. Dezember 2017, 19:19

        Die großen Wachstumsregionen der Welt – Nordamerika, China, Indien und die Tigerstaaten – ziehen ihre Kraft aus einer sehr liberalen Unternehmenspolitik und Angebotspolitik. Europa schwächelt seit vielen Jahren, weil hohe Sozialausgaben Investitionen und Risikobereitschaft hemmen.
        Der erste Satz ist eine derartige Kaugummibegrifflichkeit, das ich gar nicht weiss, was der Meister denn damit meint. Der Staat hat Kraft, wozu, worin? Der Staat, oder die Unternehmen oder die Bevölkerung? Europa, was ist gemeint, die EU, innerhalb deren sich sowohl Sozialleistungen als auch andere Werte extrem unterscheiden? Nur die Eurozone? Die Schweiz liegt auch in Europa und passt nun so gar nicht zu Ihrer Beschreibung.

        BIP Wachstum kann das nicht sein da sind schon die Unterschiede zwischen den Staaten zu gross:
        USA 2012 +2,22%, 2017 + 2,18%
        China 2012 +7,9%, 2017 +6,7%
        Indien 2012 5,46%, 2017 +6,72%
        Schweiz 2012 1%, 2016 +1,4%
        EU 2012 – 0,5%, 2017 +1,9%
        Eurozone 2012 -,0,7%, 2017 +1,7%

        Vielleicht meint der Autor das Vermögen pro Kopf? Wohl eher nicht
        Schweiz 537.599 US Dollar
        USA 388.585 US Dollar
        China 26.872 US Dollar
        Indien 5.976 US Dollar
        EU 64,216 Euro

        Staatsverschuldung? In Prozent vom BIP
        Schweiz 29,6%
        USA 108,14%
        China 47,61%
        Indien 68,96%
        EU 83,4%

        Lebenserwartung? Die liegen alle relativ nahe bei einander
        Schweiz 82,9
        USA 78,74
        China 75,99
        Indien 68,35
        EU 81,6

        Kindersterblichkeit? Säuglingssterblichkeit 2015 (je Tsd. Lebendgeburten)
        Schweiz 3,6
        USA 5,6
        China 15,2
        Indien 44,6
        EU 3,1

        An welchem sollten wir uns ein Beispiel nehmen?

        Vielleicht ist mit die Armutsquote gemeint?
        Schweiz 7%
        USA 14,8 %
        China 16,67 %
        Indien 29%
        EU 8%

        Ich finde da kein Merkmal, das auf eine Kraft hinweist, die wir anstreben sollten.
        Was ist Angebotspolitik und seit wann ist China ein liberales Land?

        Sehr verwundert
        Rauschi

        • Ralf 11. Dezember 2017, 19:29

          Vielen Dank fuer die konkreten Zahlen. Die Uebersicht ist ein hilfreicher Beitrag zur Debatte.

          • Rauschi 12. Dezember 2017, 10:44

            @Ralf
            danke sehr, ich wollte noch mehr Vergleichswerte bringen, aber die oben sollten ja erst mal reichen. 😉
            Aber die Arbeitslosenquoten habe ich noch. Wobei die nicht wirklich vergleichbar sind, da sich z.B. in den USA viele nicht mehr arbeitslos melden, da es nach einem Jahr auch keine Unterstützung mehr gibt, in Indien gibt es keine Zahlung an Arbeitslose. In China werden die Zahlen nur für die Stadtbevölkerung erhoben, und nir diese bekommt Arbeitslosenunterstützung. Welches Erpressungspotential in diesem System liegt, muss ich wohl nicht erklären?
            Schweiz 5,1%
            USA 4,39%
            China 4,02%
            Indien 3,4%
            EU 7,4%
            Eurozone 8,8%

            Gruss Rauschi

    • Blechmann 11. Dezember 2017, 15:45

      „Im Gegensatz dazu wird die Vision eines starken, handlungsfaehigen, geeinten Europas stehen, das als Grossmacht den USA und China ebenbuertig ist und mit am Tisch der Maechtigen sitzen und die internationalen Spielregeln mitbestimmen wird. Innerhalb dieser europaeischen Grossmacht wuerden gerade die Deutschen immensen Einfluss haben. Unsere europaeische Identitaet, unser Sozialsstaatsgedanke (einzigartig auf der Welt!), unser Glaube an den Rechtsstaat und die Demokratie (auch zunehmend einzigartig auf der Welt!) und damit unsere Lebenskultur haetten eine Chance zu ueberleben. “

      Wer sind denn bitte die „Deutschen“? Das heißt doch heutzutage „Die schon länger hier leben“. ;o)

      Aber im Ernst. Wieviel Einfluß die europäischen Eliten in der Welt haben ist mir nun wirklich pupsegal. Da stellt sich schon die Frage, wie effektiv dieser ideologische Schmus in der Debatte wäre.

      • Ralf 12. Dezember 2017, 03:00

        Aber im Ernst. Wieviel Einfluß die europäischen Eliten in der Welt haben ist mir nun wirklich pupsegal.

        Wer Macht und Einfluss hat, bestimmt die Regeln im politischen und wirtschaftlichen Geschaeft. Wenn Ihnen das „pupsegal“ ist, dann werden Sie sich noch sehr wundern, wenn uns von den USA und China irgendwann Handelsabkommen diktiert werden, unser Recht dahingehend gebeugt werden wird, dass es den Grossmaechten passt und ihre Kinder in einem Krieg irgendwo am anderen Ende der Welt als Kanonenfutter verheizt werden.

  • Ariane 11. Dezember 2017, 08:24

    Ich plädiere dringend mal für rhetorische Abrüstung. „verzweifelter Harakiri-Pilot“, my ass 😉

    Ist ja kein Geheimnis, dass ich durchaus ein Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa bin, aber die Reihenfolge ist einfach falsch.
    Budget und Haushalt ist nicht umsonst das Königsrecht eines jeden Parlaments. Und die EU hat keine vergleichbare Institution und solange die Rechte des EU-Parlaments weiterhin so beschnitten sind, kann man da nichts hin transformieren.

    Das betrifft ja nicht nur Haushaltsfragen, sondern fast alles. Wer die Vereinigten Staaten von Europa will, muss nun mal erst dafür sorgen, dass diese demokratisch genauso legitimiert sind wie die normalen Nationalstaaten und dafür müsste die Komission ihre Rechte dramatisch beschneiden und die des EU-Parlaments extrem steigern. So ist das alles sinnlos, denn wer sollte das Königsrecht denn eigentlich ausfüllen? Die Komission? Da sitzen 27 oder 26 Leute, die niemand gewählt hat, weil wir zb nicht den Präsidenten von Frankreich wählen können. Oder das Parlament? Das hat dafür zu wenig zu sagen, die haben ja nicht mal ein Initiativrecht und könnten mit dem Haushaltsgedöns gar nicht soviel anfangen.

    Und die EU hat da sowieso noch einiges vorher zu klären, wie die nicht ganz unwichtige Frage, ob sie ihren Bürgern oder den Nationalstaaten verpflichtet ist. Siehe zum Beispiel Ungarn: was tun, wenn dort Bürgerrechte eingeschränkt werden? Wenn sie hauptsächlich den Bürgern verpflichtet ist, braucht sie (und zwar wiederum das Parlament!) Kompetenzen, um eingreifen zu können. Wenn nicht und sie meint, die Staaten können großteils tun und lassen, was sie wollen. Auch ok, nur dann kann sie nicht auf anderen Gebieten plötzlich mehr Kompetenzen verlangen.

    • In Dubio 11. Dezember 2017, 14:13

      Ich plädiere dringend mal für rhetorische Abrüstung. „verzweifelter Harakiri-Pilot“

      Stimmt, „verzweifelt“ und „Harakiri“ ist eine Doppelnennung. 🙂

      Martin Schulz, der im Wahlkampf nicht mit seiner Vergangenheit in Europa in Verbindung gebracht werden wollte, hat nun in der Phase einer schwierigen Regierungsbildung nichts besseres zu tun als über die EU im Jahr 2025 im Duktus der absoluten Gewissheit zu sinnieren. Sorry, das ist Kamikaze. Hier hat ein Politiker jede Orientierung verloren.

      Ansonsten geht es im Artikel nicht darum, „für“ oder „gegen“ Europa zu sein. Erst vor Tagen habe ich begonnen, darüber nachzudenken, ob das überhaupt so geht. Und wer nur ein paar Vorlesungen Verfassungsrecht gehört hat, dem wird sehr schnell klar, dass ein europäischer Staat das Ende des Grundgesetzes bedeuten muss. Umso erstaunlicher, dass jeder proeuropäischer Politiker dies schlicht unter den Tisch fallen lässt. Wir reden so selbstverständlich von einem EU-Finanzminister und gemeinsamen Steuern, als wäre das so problemlos wie die Ratifizierung einer Bananenverordnung. Wir müssen uns durchaus frühzeitig mit dem Gedanken befassen, was dafür notwendig ist.

      Denn wenn die Hürden so extrem hoch sind, gilt es die Frage zu beantworten, wie man eigentlich eine so breite Mehrheit in der Bevölkerung organisieren will. Eins ist für mich sicher: ein Politiker wie Martin Schulz kann das mit Sicherheit nicht.

      • Ariane 11. Dezember 2017, 14:33

        Ich denke, das weiß Martin Schulz auch. Aber wie Nicolai schon sagte, ist es eben sein Job Diskussionen anzustoßen. Das sehe ich nicht so problematisch.

        Und bei dem Finanzkram muss man imo weiterdenken, als nur zu den Buchstaben in der Verfassung. Die dahinterstehende Idee ist eben immer die demokratische Legitimierung und in der EU hinkt diese den Nationalstaaten hinterher. Deswegen hat das Verfassungsgericht erstmal das deutsche Parlament in der Frage gestärkt, weil sonst niemand da ist, dem diese wichtige Aufgabe anvertraut werden kann.
        Ich bin der Meinung, dass sowohl die Bürger als auch die Verfassungsrechtler weniger Schwierigkeiten mit der Abgabe von Kompetenzen hätten, wenn zb nur noch das Parlament (das alle gleichberechtigt wählen) darüber entscheiden würde, dann wäre die demokratische Legitimität nämlich nicht beeinträchtigt.

        Das wollen viele aber (logischerweise) nicht, weil sie dann auf Macht verzichten müssten und so geht es weder voran noch zurück und dann hat man halt so ein merkwürdiges Zwitterkonstrukt, von dem weder die EU selbst noch ihre Bürger wirklich wissen, was davon zu halten ist.
        Hier stimme ich Ralf ausdrücklich zu, ich denke das Gute am Brexit und den ganzen Verhandlungen drumherum ist, dass einem vor Augen geführt wird, wieviele Vorteile die EU hat, denen wir uns gar nicht mehr bewusst sind, weil es für uns mittlerweile ganz selbstverständlich ist, ohne Kontrollen von links nach rechts, für lang oder kurz, in andere Länder zu reisen.

        • In Dubio 11. Dezember 2017, 15:01

          Aber wie Nicolai schon sagte, ist es eben sein Job Diskussionen anzustoßen.

          Nee, das ist es gerade nicht. Schon gar nicht von einem Politiker, der sich von seinen Mitgliedern genehmigen lassen muss, ob er mit der politischen Konkurrenz überhaupt spricht.

          Und bei dem Finanzkram muss man imo weiterdenken, als nur zu den Buchstaben in der Verfassung.

          Bitte nicht. Die Politik hat in den letzten 20 Jahren bewiesen, dass sich die Bürger auf Zusagen nicht verlassen können. Hier muss erst Vertrauen aufgebaut werden.

          Ich bin der Meinung, dass sowohl die Bürger als auch die Verfassungsrechtler weniger Schwierigkeiten mit der Abgabe von Kompetenzen hätten, wenn zb nur noch das Parlament (..) darüber entscheiden würde, dann wäre die demokratische Legitimität nämlich nicht beeinträchtigt.

          Erstaunlich, wie Du die Bevölkerung umgehen willst. Das Wesentliche, was Dir nicht bewusst ist: Du wirst Mehrheiten in der Bevölkerung drehen müssen. Das ist kein politisches Instrument mehr, sondern geht an das Fundament unserer Gesellschaft. Schon bei der Euro-Einführung gab es massive Bedenken, die sich später bewahrheiten haben. Das Vertrauen in die Politik und ihre Zusagen sind damit erheblich erschüttert. Ich sehe bei Dir keine Idee, wie Du als Befürworterin die Mehrheiten zu Deinen Gunsten drehen willst. Denn Interesse, auf die Kritiker zuzugehen, scheint noch nicht vorhanden zu sein.

          Und nochmal: hier geht es nicht mehr um Reisefreiheiten und gemeinsamen Handel. Hier geht es um elementare Fragen des Staates: wer hat Macht über uns? Den meisten – nicht nur in Deutschland – ist mulmig dabei, dass Gesetze für Polizei, Bildung und Steuern direkt von Brüssel aus beschlossen werden.

          • Ariane 11. Dezember 2017, 17:00

            Erstaunlich, wie Du die Bevölkerung umgehen willst.

            Nein, genau das will ich eben nicht. Deswegen hacke ich so auf den Institutionen herum. Es ist sinnlos, darüber nachzudenken, etwas von links nach rechts zu schieben, wenn nicht beide Seiten gleichermaßen demokratisch legitimiert sind. Dann wird man dafür auch nie Mehrheiten finden.
            So ist das nämlich alles witzlos. Was sollen wir mit Vereinigten Staaten von Europa, wenn die weniger demokratisch sind als die Nationalstaaten und unsere gewählten Vertreter nur Tüddelkram wie Handyverträge regeln, während die wichtigen Sachen von Leuten entschieden werden, die nur 1/27 gewählt hat.

            Den meisten – nicht nur in Deutschland – ist mulmig dabei, dass Gesetze für Polizei, Bildung und Steuern direkt von Brüssel aus beschlossen werden.
            Ja, das liegt aber meiner Meinung nach eben u.a. an der hinkenden Legitimität. Selbst du sagst ja „aus Brüssel beschlossen“, weil überhaupt niemand weiß, ob da gerade zufällig Rat, Komission oder Parlament zuständig ist. Deutschen Bürgern wäre vermutlich genauso mulmig, wenn irgendwas aus Berlin beschlossen würde und sie gar nicht wüssten, wie etwas zustande kommt und wie sie Einfluss darauf nehmen können.

            Dieses institutionelle Chaos muss meiner Meinung nach erst geklärt werden, bevor man überlegen kann, wer da für was zuständig sein soll und dann kann man erst vernünftig darangehen, Mehrheiten zu organisieren.

          • Stefan Sasse 11. Dezember 2017, 18:00

            Mehrheiten drehen kann ich halt nur in der offenen Debatte. Von daher verstehe ich nicht was dein Problem damit ist, dass Schulz das Thema anstößt.

            • In Dubio 11. Dezember 2017, 18:10

              Martin Schulz hat im Wahlkampf sogar seine europapolitische Karriere versteckt und sich stattdessen als Bürgermeister von Würselen inszeniert. Und Du meinst, er wäre die richtige Person, eine solche Debatte anzustoßen? Dazu gehört doch ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit, oder? Sonst brechen die Leute gleich in Lachen aus – solche wie ich z.B. 🙂

              • Ralf 11. Dezember 2017, 19:24

                Um Himmelswillen, manchmal frage ich mich echt, was in Ihrem Kopf vorgeht …

                Weil Martin Schulz seinen Wahlkampf verbockt hat, darf er keine Meinung zu Europa mehr haben? Obwohl er Vorsitzender der zweitgroessten Partei Deutschlands ist, darf er keine Debatten mehr anstossen? Ehemaliger langjaehriger Praesident des Europaparlaments gewesen zu sein, qualifiziert ihn nicht eine Vision fuer die EU zu haben? In was fuer einer Welt leben Sie eigentlich?

                • In Dubio 11. Dezember 2017, 19:44

                  Vor die Wahl gestellt, war Schulz im Wahlkampf ausschließlich (!) Ex-Bürgermeister von Würselen, weil er meinte, damit besser beim Bürger punkten zu können. Er hatte eben nicht den Mut eines Macron. So, wie er die Kanzlerin auch erst anging, als die Wahl vorbei war. Sorry, Schulz ist der Typ Politiker, der immer nur dann was riskiert, wenn er meint, nichts verlieren zu können. Der Sozialdemokrat hat den Großteil seines politischen Lebens in Brüssel zugebracht und war ein herausragender Präsident des Parlaments. Daneben ist er ein glühender Europäer.

                  Wenn er jedoch meint, dies vor den deutschen Bürgern verstecken zu müssen, dann soll er gefälligst schweigen, wenn dieses Land weiß Gott andere Probleme hat als die Verfasstheit der Europäischen Union im Jahr 2025. Und das dann auch noch im Habitus des großen Strategen tut, der keinen Widerspruch duldet. Wer nicht für seine Version von Europa ist, solle gefälligst austreten – diesen Mann interessiert Recht kein bisschen und das ist angesichts der vielen Vertragsbrüche innerhalb weniger Jahre ein miserabler Leumund.

                  • Ralf 12. Dezember 2017, 04:10

                    dann soll er gefälligst schweigen

                    Der Mann wurde gerade zum SPD-Vorsitzenden wiedergewaehlt. Ist ja in Ordnung, dass Sie die Sozialdemokraten nicht moegen. Auch in Ordnung, dass Sie Martin Schulz nicht moegen. Auch ich denke, die Partei waere am besten damit gefahren, Herrn Schulz fuer immer in die Wueste zu schicken.

                    Aber die SPD hat sich nunmal anders entschieden. Ich darf das fuer meine persoenliche Wahlentscheidung beruecksichtigen, muss das demokratische Votum aber doch akzeptieren. Und selbst Ihnen sollte klar sein, dass es nicht die Aufgabe des SPD-Vorsitzenden sein kann in Zukunft „gefaelligst zu schweigen“.

              • Stefan Sasse 12. Dezember 2017, 10:00

                Du meinst, als Repräsentant der Mehrheitsgesellschaft? Nur um das Implizite mal explizit zu machen 😉

        • Stefan Sasse 11. Dezember 2017, 17:59

          Die FDP hat kein Problem damit, allumfassende Steuerreformen zu fordern, obwohl sie meist kaum über 10% hinauskommt. Warum sollte Schulz nicht auch Forderderungen erheben dürfen? Dass das nicht einfach passiert, nur weil er an die Regierung kommt, weiß glaube ich jeder.

        • Detlef 12. Dezember 2017, 14:27

          „Ich bin der Meinung, dass sowohl die Bürger als auch die Verfassungsrechtler weniger Schwierigkeiten mit der Abgabe von Kompetenzen hätten, wenn zb nur noch das Parlament (das alle gleichberechtigt wählen) darüber entscheiden würde, dann wäre die demokratische Legitimität nämlich nicht beeinträchtigt.“

          Das EU Parlament wird aber nicht gleichberechtigt gewählt. Solange ein MEP beispielsweise 80.000 Bürger vertritt, ein anderer aber 800.000 kann ich keine Gleichberechtigung erkennen.

  • Erwin Gabriel 20. Dezember 2017, 09:34

    @ In Dubio 11. Dezember 2017, 20:01

    Welcher deutsche Politiker will zum Beispiel in die Bütt und den Wählern ein Verfassungswerk vorstellen mit der Zusicherung, dass dieses Regelwerk sowohl dem Buchstaben als auch dem Geiste nach gilt? Nach den Erfahrungen mit den Maastricht-Verträgen?

    Nach Junckers‘ „Wenn es ernst wird, muss man lügen“ würde ich weder Merkel noch Schulz noch irgendeinem aus Brüssel glauben.

    es grüßt
    E.G.

  • Jens 20. Dezember 2017, 17:33

    Ich entwickle mich in langsamen Schritten von einem EU Befürworter zu einem Gegner.

    Der Euro war und ist eine Kopfgeburt und gefährdet den europäischen Gedanken, da er die Kraft hat die EU zu sprengen. Die politische Union, was immer das auch genau sein soll, hat er nicht gebracht. Das war eigentlich die Hoffnung mit dem EURO, so die europäische Einheit weiter voran zu bringen. So gesehen, war er ein totaler Rohrkrepierer. Die wirtschaftlichen Unterschiede sind mit dem Euro gewachsen.

    Im Süden der EU wird Deutschland zunehmend als Zuchtmeister gesehen, der seinen Willen den anderen aufdrückt. Unter diesen Vorraussetzungen einen starken EU-Staat gründen. Wo ist der einende Gedanke?

    Solidarität kann ich in Europa nicht erkennen. Griechenland ist immer noch am Boden. Nachdem die sogenannte Griechenlandrettung abgeschlossen war, die eigentlich die Bankenrettung 2.0 war, da ca. 90% der Rettungsgelder stande pede von Griechenland an überwiegend französiche und deutsche Banken zurückflossen, kriegt Griechenland jetzt zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Italien steht auch sehr schlecht da. Die deutsche Idee ist noch mehr sparen. Das ist für mich so erforgversprechend wie einem Magersüchtigen zu sagen er solle weniger essen.

    Unter deutscher Anleitung praktiziert die EU nun das deutsche Exportmodell. Dafür ist die EU als Wirtschaftsraum eigentlich viel zu groß. Es bleibt nur die USA und (noch) UK um die ganzen Exporte zu absorbieren, da ja auch China, Japan und Südkorea ebenfalls Exportüberschüsse einfahren. Sogar Mexiko hat seit dem Nafta Abkommen zunehmend Exportüberschüsse in die USA. So ein großer Wirtschaftsraum wie die EU sollte sich nicht so vom Export abhänging machen, zumal ein Exportüberschuss immer ein Indikator für zu geringe Löhne und /oder eine künstlich schwache Währung sind. Zumindest wenn sie so lange anhalten und nicht gerade klein sind.

    Mittlerweile präferiere ich eine geordnete Abschaffung des Euros und zurück zu eigenen Währungen, die dann auf oder abgewertet werden können, um wieder sozial gerechter Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Ländern herzustellen.

    Mit der gemeinsamen Landesverteidigung habe ich auch so meine Probleme. Frankreich hat schon immer seine Fremdenlegion losgeschickt wie es beliebt. Die Franzosen hatten damit wenig Probleme. Die deuschen Bürger scheuen solche Einsätze. Soll wirklich das EU Parlament über den Einsatz deutscher Soldaten entscheiden? Spaltet das die Völker Europas nicht eher?

    Die Freizügigkeit ist ebenfalls ein Problem in der EU. Zumindest seit das LG Hamm entschieden hat, dass Firmen auch Streikbrecher aus dem europäischen Ausland einfliegen lassen darf.

    Hinzu kommt, dass Länder wie Polen und Ungarn eigentlich keine Demokratien mehr für mich sind.

    Kurz ich sehe immer weniger Gemeinsamkeiten und viel Konfliktpotenzial bei einem weiteren Zusammenrücken.

    Katatstrophal schwach ist das EU-Parlament, dass nicht einmal eigene Gesetzinitiativen erbringen kann, oder die Vorschläge der EU Kommission abändern kann. Es kann sie nur mit ja oder nein bewerten. Kurz die Exekutive in der EU ist mir zur stark und die Legislative zu schwach.

    Die judikative (EUGH) hat nur die Freizügikeit des Marktes im Visier. Zudem definierte es sich seine Zuständigkeit selbst.

    Kurz die ganze Gewaltenteilung der EU ist IMHO schlecht organisiert.

    Ich weiß nicht was die SPD da vorhat. Überzeugen tut mich das bisher kein bisschen.

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