Am Tor der Finsternis

Ein Kommentar von BILD-Journalist Julian Reichelt hat jüngst die Gemüter erregt:

Andererseits denken wir an die unbequeme Frage: Was wäre wenn? Was wäre, wenn es bei einer Entführung um das Leben eines Kindes ginge – wie im Fall Metzler? Was wäre, wenn ein Terroranschlag vielleicht verhindert werden könnte? Was wäre, wenn man durch Folter Osama bin Laden auf die Spur gekommen ist? Die Antwort lautet: Es gibt darauf keine Antwort. Es ist ein moralisches Dilemma. Deswegen fürchten wir die Frage, blenden sie aus. Aber genau deswegen beschäftigt diese Frage auch schon immer Rechtsgelehrte und Philosophen.

Reichelts moralisches Dilemma beschäftigt Regierungen schon seit langer Zeit: was ist, wenn wir eine Chance haben, Menschen zu retten, indem wir, nur dieses eine Mal, anderen Menschen ihre Grund- und Menschenrechte entziehen? Weder Reichelt noch sonstwer geht dabei davon aus, dass dies Antwort auf diese Frage legal mit einer carte blanche für Folter beantwortet werden kann. Die Rechtslage ist klar, auch in Deutschland spätestens seit dem BVerfG-Urteil zum Abschuss von Passagierflugzeugen: ein Abwägen von Menschenrechten kann es nicht geben, Punkt aus Ende. Natürlich sieht die Lage immer anders aus, wenn man der arme Tropf ist, der die Entscheidung treffen muss. Der steckt dann nämlich in dem von Reichelt angesprochene „moralischen Dilemma“, das der BILD-Mann aus gutem Recht nicht als legales Dilemma bezeichnet, weswegen er seinen Artikel entsprechend abschließt: „Der Rechtsstaat darf niemals zur Folter ermutigen. Wenn er das tut, stößt er die Tore der Finsternis auf.“ Haben die USA nun also das Tor zur Finsternis aufgestoßen, oder steht der Westen in angstvoller Anspannung zitternd vor der noch verschlossenen Türe?

Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein„, schrieb Friedrich Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“, was vermutlich der Ort ist, an dem sich Dick Cheney aktuell immer noch beheimatet glaubt. In der Panik nach 9/11 – und diese Panik war ein reales Phänomen, falls man das inzwischen vergessen haben sollte – war man der Überzeugung, an einem Abgrund zu stehen und dass jeglicher Schritt weg davon unternommen werden musste und dass jedes Mittel hierzu zwingend gerechtfertigt war. In Dick Cheneys Interview-Äußerungen zeigt sich diese Überzeugung von jeder durch Erfahrung oder Altersweisheit ungetrübter Uneinsichtigkeit: die USA können per definitionem nicht foltern. Das können nur die Bösen. Für Cheney ist das was geschah schlicht keine Folter.

Damit ist er zugegebenermaßen in einer Außenseiter-Position. Die meisten anderen Verteidiger der Folter rechtfertigen diese hauptsächlich mit dem Abwägen des moralischen Dilemmas oder den unklaren Befehls- und Kompetenzstrukturen, die eine klare Abwägung von Richtig und Falsch fast unmöglich gemacht hätten. Tatsächlich haben die Memos aus dem Justizministerium, die die Rechtmäßigkeit der Folter belegen sollten (und die mittlerweile samt und sonders zurückgezogen wurden) dem Ganzen eine Aura der Legalität und Legitimation verliehen, die für den einfachen CIA-Contractor, so es ihn überhaupt interessierte, kaum zu durchschauen gewesen sein dürfte: die Bürokratisierung von organisierter Menschenrechtsverletzung und ihr legaler Deckmantel dürfte für mehr als einen Beobachter ein Echo aus totalitären Systemen in sich tragen, inklusive der „Wir-gegen-Sie“-Mentalität und der Vorstellung, im Kampf für die gute Sache heilige der Zweck die Mittel.

Genau diese Einstellung aber heißt, jenes Tor zur Finsternis aufzustoßen, von dem Reichelt sprach. Es ist faszinierend wie sehr die Abscheu vor der Bush-Regierung jener Tage bereits wieder in Vergessenheit geraten ist, aber tatsächlich, wie uns auch Krugman erinnert, galten Bush und Cheney schon zu ihrer Zeit progressiven Geistern schlicht als Inkarnation des Bösen und als ein Irrweg in die Dunkelheit. Abgesehen von den USA selbst, wo eine Beschäftigung mit den Geschehnissen und ihre Aufarbeitung durch die innenpolitischen Grabenkämpfe völlig verzerrt wird, gibt es in der Öffentlichkeit auch kaum Zweifel an dem, was geschehen ist: die USA starrten lange in den Abgrund, und er starrte zurück. Sie tranken tief aus der Finsternis, die ihnen aus dem Tor entgegen kam. In der Zeit zwischen 2002 und 2009 waren sie ein rogue state, ein Teil jener „Achse des Bösen“, zu deren Abwehr sie das Böse selbst beschworen. Debattiert wird eigentlich nur noch die Frage, ob unter Obama das Tor geschlossen wurde oder ob die Drohnenschläge es weit offenhalten.

Relevant wird daher für die weitere Bewertung der Folter-Ära vor allem sein, wie die USA selbst damit umgehen. Ihr Sündenfall wurde von jedem außer ihnen selbst bereits anerkannt. Das moralische Kapital, das sie als „Leader of the Free World“ einst für sich in Anspruch nehmen konnten, ist praktisch verspielt, weggeworfen von einer wildgewordenen Neocon-Bande in einer Ära der Konfusion und Furcht. Aber die Veröffentlichung des hunderte von Seiten umfassenden Reports, der vermutlich bei weitem nicht alle Fälle behandelt, muss bereits als ein Zeichen gesehen werden. Bereits dies war hart umkämpft: mit dem Argument der nationalen Sicherheit wurde versucht, seine Veröffentlichung zu verhindern, und es zeigt sich, dass bei weitem nicht alle Konservativen den tiefen moralischen Fall ihres Landes und ihrer Partei ignorieren:

Aktuell steht die Frage an, ob es eine strafrechtliche Verfolgung der Täter geben wird. Der Senatsreport selbst ist letztlich eine Ansammlung von hunderten Seiten Beweismaterial, und die Täter haben ihre Verwicklung sogar selbst zugegeben. Rein rechtlich scheint der Fall klar zu sein: die internationalen Konventionen zur Folter verlangen eine Anklage der Täter. Gleichzeitig ist eine tatsächliche Anklage äußerst unwahrscheinlich. Die meisten nicht-westlichen Staaten werden sich eher zurückhalten, denn wer will schon für die Folter im eigenen Land unangenehme Präzedenzfälle setzen? Die meisten westlichen Staaten werden sich zurückhalten, weil ein direkter Konflikt mit den USA nicht nur sinnlos, sondern auch extrem schädlich ist. Und die USA selbst werden sich ebenfalls zurückhalten, weil eine Anklagewelle für die Vorgängerregierung durch die Nachfolgerregierung eine gigantische Gefahr für die Demokratie ist. So einleuchtend es auf dem Papier scheinen mag, man muss sich nur mit der Geschichte der Römischen Republik und Cäsars Aufstieg zur Macht beschäftigen (oder, wer es gerne näher hat, mit Erdogans Methoden in der Türkei) um zu sehen, wohin die Praxis der juristischen Verfolgung früheren Regierungshandelns führen kann.

Um vorschneller Kritik vorzubeugen, dass solche Argumente im Angesicht von Menschenrechtsverletzungen nichts verloren haben, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das alles nicht im luftleeren Raum stattfindet. Taten können ungewollte Konsequenzen entwickeln, die sich als deutlich verheerender herausstellen als der Schaden, den man eigentlich abwenden wollte. Man muss nur Dick Cheney fragen. Die Idee, man könne mit einigen begrenzten Fällen von „enhanced interrogation“ (es geht nichts um Euphemismen, wenn man Menschenrechtsverletzungen bürokratisiert) Schaden vom Land abwenden, kommt jetzt zurück und erweist sich als ungeheuer schädlich. Die Idee, man könne mit jegliche politische Realitäten ignorierender, idealismusgetriebener Empörung den Geist zurück in die Flasche stecken, könnte sich noch als viel üblerer Rohrkrepierer erweisen. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Destabilisierung der USA von außen (durch Angriffe ihrer Verbündeten) und innen (durch eine Radikalisierung des politischen Systems) würde künftigen Menschenrechtsverletzungen vorbeugen? In einer geradezu gespenstischen Parallelität hat die Science-Fiction-Serie „Battlestar Galactica“, die ich weiterhin uneingeschränkt empfehlen kann, diese Fragestellung bereits 2004 aufgegriffen: was passiert, wenn wir im Kreuzzug für unsere Ideale zu weit gehen und die Realität aus den Augen verlieren?

 

Letztlich werden sich die USA vor allem an der Aufarbeitung und ihren weiteren Taten messen lassen müssen und nicht an der Frage, ob sie die Täter verfolgen. Deutschland ist auch nicht das Land, das es heute ist, weil es die Auschwitz-Prozesse geführt hat, sondern weil man seither sehr bewusst versucht hat, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und es künftig besser zu machen. Es ist die Stärke des Westens nicht so sehr, dass er seine Täter in Schauprozessen aburteilt, sondern dass er sich seinen dunklen Momenten stellen kann. Oder glaubt jemand, die Debatte, wie sie aktuell in und außerhalb der USA geführt wird, sei in Russland oder China vorstellbar, oder im Iran? Dort wären vielleicht irgendwelche Sündenböcke abgeurteilt worden, um damit Land und Gesellschaft reinzuwaschen. Dies kann nicht der Weg sein, den wir beschreiten, und er wird es nicht sein. Was wir von den USA erwarten müssen ist daher weniger, Bush und Cheney auf die Anlagebank zu setzen, sondern vielmehr, dass sie sich zu dem begangenen Unrecht bekennen und Schritte unternehmen, dieses künftig zu unterbinden. Nur so wird es möglich sein, das Tor zur Finsternis zu schließen und den Blick endlich vom Abgrund abzuwenden.

{ 17 comments… add one }
  • sesso 16. Dezember 2014, 14:40

    natürlich gehören cheney und bush angeklagt. der klassische sündenbock wäre doch irgendein cia-agent, der dafür bestraft wird. aber dass folter angewandt UND als legal tituliert wird, das ist auf bush und seinem VP zurück zu führen… eben aus dem noch viel schlimmeren grund, dass sie meinten (und noch meinen) es für god’s own countrey getan zu haben…

    natürlich waren auch die nürnberger prozesse relevant für das „vor auge führen“ dieses unsäglichen verbrechens holocaust… und das es eben nicht als kolleteralschade des dritten reiches abgetan wurde sondern dass die judenvernichtung gewollt und geplant war… genauso wie es die folter war und jetzt ist… der wesentlich größere schaden wäre hier zu zeigen, dass man sich es als „macht“ einfach erlauben kann zu foltern… das wäre ein verherendes signal, weil dann kann man die folterkonvention auch gleich ganz sein lassen…

  • Stefan Sasse 16. Dezember 2014, 16:12

    Klar gehören die angeklagt. Passieren wird es nicht.
    Und Holocaust und der Folterskandal spielen doch in völlig unterschiedlichen Ligen. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass es bis vor kurzem keine Wiederholung der Nürnberger Prozesse gab. Die Vorbedingung dafür scheint die völlige Niederlage des Gegners zu sein.

  • Maniac 17. Dezember 2014, 08:45

    Naja, als „Nachfolger“ Nürnbergs müsste man ja den IStGH in Den Haag bezeichnen. Der wäre in diesem Falle aber aus doppeltem Grunde nicht zuständig, denn 1. haben die USA das Statut nicht ratifiziert (inwieweit Folter durch die USA auf dem Gebiet von Staaten stattgefunden hat, die das Statut unterzeichnet haben, entzieht sich meiner Kenntnis) und 2. ist zwar Folter grundsätzlich von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfasst, aber nur, wenn sie im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erfolgt. Und bei allem Abscheu vor dem Verhalten der Amerikaner, einen ausgedehnten und systematischen Angriff würde ich bei der bekannten Größenordnung und dem Hintergrund der Folter jetzt nicht uneingeschränkt bejahen.

    Bleibt also die rechtliche Auflösung vor normalen Strafgerichten der USA. Mit den von Stefan richtig dargestellten Problemen. Hinzu kommt, dass die Bürger der USA das Verhalten ihres Landes mit Blick auf den 11.9. wahrscheinlich dann doch überwiegend akzeptieren und lediglich der Schwere, Massivität und Dauer wegen ablehnen. Mindestens ein nicht unbedeutender Anteil der amerikanischen Bevölkerung wird zumindest anerkennen, dass Cheney zum Wohle der Amerikaner gehandelt hat. Und damit wird einem allgemein akzeptierten Urteil gegen politische Entscheidungsträger doch der Boden entzogen. Insbesondere vor dem Hintergrund der amerikanischen Spaltung der Gesellschaft werden doch sofort politische Gründe vermutet. Selbst wenn es zum Urteil käme, wäre diesem doch die Lehre genommen. Ich sehe politische Märtyrer am Horizont der Tea Parties…

    Insgesamt ein guter Artikel, dem ich weitgehend zustimmen würde. Wie siehst Du denn Obamas Verhalten? Ist Amerika, Du deutest das an, tatsächlich wieder auf dem Pfad der Tugend zurück? Hat der Präsident denn überhaupt noch einen Einfluss auf die sich verselbständigenden Geheimdienste? Ich befürchte fast, dass sich praktisch an Folterpraktiken kaum etwas geändert hat.

    Gruß, M.

  • Ariane 17. Dezember 2014, 11:12

    Wow, großartiger Artikel. Vielen Dank dafür.

    Ich glaube auch, dass eine Strafverfolgung nicht funktionieren würde, obwohl es symbolisch eigentlich richtig wäre. Wichtiger wäre eigentlich, ganz klarzustellen, dass das „Tor zur Finsternis“ (hübscher Ausdruck) geschlossen ist. Es bräuchte eigentlich eine große Rede zur Verteidigung der Menschenrechte und dass man Fehler gemacht hat, aber aus diesen lernt usw. usf., um zumindest etwas moralischen Kredit wieder aufzubauen. Der Bericht kann da meiner Meinung nach eigentlich nur der erste Schritt sein, wenn sonst nichts passiert, ist er doch irgendwie ein bisschen wertlos.

    Und das zweite wäre, dass man zwingend die Geheimdienste in den Griff kriegen muss. Da geht es ja nicht nur um die Zeit, in der gefoltert wird, sondern auch die Versuche die Untersuchung zu behindern, teilweise sogar mit drastischen Einschüchterungen. Und der Cia-Boss ist mit ner simplen Entschuldigung dafür durchgekommen, das kanns eigentlich auch nicht sein. Die Politik muss da meiner Meinung nach wieder die Kontrolle in die Hand bekommen.

  • Stefan Sasse 17. Dezember 2014, 12:19

    Zwei Probleme, die ihr ansprecht:
    1) Eine klare Absage gegenüber den bisherigen Praktiken und eine Verdammung sind aus den gleichen Gründen politisch nicht praktikabel wie eine strafrechtliche Verfolgung: es wirkt wie eine partisan witchhunt und wird nur weiter polarisieren. Obama muss daher vorsichtig sein und einen Mittelkurs einschlagen.
    2) Aus dem gleichen Grund ist ein Kahlschlag innerhalb der CIA kaum praktikabel.

    Was die Schwierigkeit des „in Griff kriegen“ der CIA angeht empfehle ich das von mir gemostete Zitat im Blog.

    • Ariane 18. Dezember 2014, 13:35

      Das stimmt natürlich, andererseits ist „die Fehler der Vorgängerregierung ansprechen“ etwas, was weitaus üblicher ist als sie vor Gericht zu stellen. Und es ist ja eh nicht so, dass Obama nun eine völlig weiße Weste hat, wenn man sich die Drohnen ansieht oder Guantanamo, von daher ist er imo eh nicht unbedingt in der Position die ganz große moralische Keule zu schwingen. Ein Hinweis darauf, dass es in den Bushjahren Exzesse gab, die den USA nicht unbedingt geholfen haben, ist meiner Meinung nach nicht falsch und wie gesagt, ich denke nur der Bericht ist dann irgendwie auch fast wertlos.

      Das Zitat von Sullivan fand ich auch sehr erhellend und ich kann mir auch vorstellen, dass er damit Recht hat. Aber auch das würde sich nur auf den Präsidenten und seinen Stab beziehen. Das Problem ist aber meiner Meinung nach ein institutionelles (btw eines, das ich auch in Deutschland für wahrscheinlich halte), nämlich dass die Geheimdienste da ihr eigenes Süppchen kochen. Es darf auch eigentlich nicht sein, dass der Präsident darauf angewiesen ist, schon vorab gute Netzwerke zu haben, um die Geheimdienste im Griff zu haben. Da wird Obama vermutlich nicht viel machen können, aber es ist schon etwas, was ich besorgniserregend finde.

  • Ralf 17. Dezember 2014, 19:22

    Im Grunde stimme ich Dir zu. Aber wenn die Folterer nicht angeklagt werden, es politisch unmoeglich ist auch nur eine Rede zu halten, die Folter klar benennt, politisch verdammt und den Opfern zumindest eine Entschuldigung anbietet, und wenn noch nicht einmal drastische personelle Veraenderungen in den Geheimdiensten, insbesondere das Herausnehmen der direkt Verantwortlichen, realistisch sind, worin soll dann das „Schliessen der Tores der Finsternis“ konkret bestehen? Cheney verhoehnt den Report in aller Oeffentlichkeit, die Schuldigen von damals geben gesammelt zu Protokoll, dass sie genauso wieder handeln wuerden, die Gerichte schweigen, eine Debatte in der Bevoelkerung findet nicht statt. In der Huffingtonpost findet sich ein Bericht ueber die Folter bereits heute zumindest nicht mehr unter den 38 aktuellsten Artikeln. Das Thema ist vergessen.

    Und morgen schon kann es wieder passieren.

    Die Aufarbeitung von Verbrechen, die der eigene Staat begangen hat, ist im uebrigen niemals angenehm. Die Nuernberger Prozesse waren in Deutschland nicht populaer. Die Prozesse vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Kriegsverbrecher aus dem jugoslawischen Buergerkrieg waren ebenfalls extrem unpopulaer in den Bevoelkerungen der ex-jugoslawischen Staaten. Prozesse sind immer nur populaer, wenn die Taeter der Gegenseite angeklagt werden. An die eigenen Verbrechen moechte niemand erinnert werden.

    Aber fuer die Aufarbeitung in allen diesen Faellen, war eine juristische Anklage essentiell. Nicht damit die Nachrichten ueber einen aufsehenerregenden Schauprozess berichten koennen. Sondern damit die Gesellschaft deutlich zeigt, dass das Verletzen von Menschenrechten Konsequenzen hat. Anstatt in Talkshows den Frieden und die Demokratie zu verhoehnen, landeten die Taeter des Dritten Reiches am Galgen oder im Gefaengnis. Auch nach ueber 60 Jahren werden noch immer Taeter gesucht und abgeurteilt. Wer Recht bricht, der wird angklagt. Das ist das Signal. In den USA wird gegenwaertig das gegenteilige Signal gegeben.

    • Stefan Sasse 17. Dezember 2014, 20:49

      Erneut: der Vergleich zwischen Göring und Bush ist auf so vielen Ebenen falsch – davon bitte ich abzusehen. Und erneut: es gab noch nie Anklagen dieser Art in einem Staat, dessen alte Führungschicht nicht durch Revolution oder militärische Niederlage komplett unterworfen worden wäre. Der Vergleich mit Nürnberg geht daher völlig in die Irre.
      Würde ich Bush und Cheney gerne angeklagt sehen? Sofort. Gehören die Kerle nach Den Haag? Auf jeden Fall. Sollten sie für den Rest ihres Lebens in den Knast? Absolut. Aber was man gerne möchte und was politisch möglich und sinnvoll ist deckt sich halt leider nicht immer.
      Wie also soll das Tor geschlossen werden? Durch Taten. Beziehungsweise in diesem Fall Nicht-Taten. Die USA müssen künftig wieder die Standards einhalten, die sie von aller Welt einfordern, ohne Wenn und Aber.

      • Ralf 17. Dezember 2014, 21:13

        Wie also soll das Tor geschlossen werden? Durch Taten. Beziehungsweise in diesem Fall Nicht-Taten. Die USA müssen künftig wieder die Standards einhalten, die sie von aller Welt einfordern, ohne Wenn und Aber.

        So wie sich die Situation jetzt darstellt, ist der Eindruck nach Lesen der amerikanischen Medien, dass es eben eine Fraktion Politiker gibt, die findet, dass Folter gerechtfertigt ist (und offen sagt, dass sie sie sofort wieder anordnen wuerde, weil sie nuetzlich und hilfreich war) und dass dieser Fraktion eine gegnerische Fraktion gegenuebersteht, die anderer Meinung ist. Gegenwaertig ist mit Obama diese gegnerische Fraktion an der Macht. Sollte Hillary die naechste Praesidentin sein, wird es wohl fuer weitere vier Jahre keine Folter geben. Sollten sich hingegen die Republikaner durchsetzen, wird je nachdem, wer sich da durchsetzt, die Folter wieder eingefuehrt werden. Ein paar Jahre spaeter kannst Du dann wieder einen Artikel dazu in Deinem Blog veroeffentlichen und wir koennen die selbe Debatte ein weiteres Mal fuehren. Wir werden wieder feststellen, dass die politischen Gegebenheiten nunmal so sind, dass man Folterer auf der hoechsten Ebene aus politischen Gruenden nicht anklagen kann. Und dann werden wir auf den naechsten Fall warten, bei dem wir die gleiche Debatte nochmal fuehren …

  • Stefan Sasse 17. Dezember 2014, 21:51

    Klar. Wir können auch hier in der Höhe der moralischen Entrüstung stehen, die metaphorischen Fäuste schütteln und in brennenden Worten eine Anklage verlangen, die dann nicht kommen wird, um in vier Jahren wieder dasselbe zu tun.

  • Ralf 17. Dezember 2014, 22:20

    Ich finde es schon wichtig zumindest deutlich auszusprechen, dass es Unrecht ist, wenn Verbrecher aus rein politischen Gruenden nicht nur straffrei entkommen, sondern sich im Fernsehen und in den Medien auch noch mit ihren Taten bruesten duerfen. Dies alles waehrend die Opfer den Rest ihres Lebens mit den Folgen der Verbrechen werden leben muessen. Falls sie ueberhaupt ueberlebt haben.

    Es ist die totale Kapitulation des Rechtsstaats. Nichts mehr und nichts weniger. Bush und Cheney sind die O.J. Simpsons der Politik. Der Beweis, dass wenn man nur ausreichend maechtig und reich ist, man keine Strafverfolgung fuerchten muss.

    Natuerlich koennen wir die Welt nicht aendern. Realistischerweise wird man das Unrecht wohl leider hinnehmen muessen. Aber wenigstens sollten wir nicht den Anschein erwecken, ein Rechtstaat koenne im Einklang damit stehen.

  • Stefan Sasse 18. Dezember 2014, 07:11

    Ich habe auch nicht das Gefühl, dass dieser Eindruck erweckt wird. Keine Anklage ist nicht dasselbe wie Akzeptanz oder Toleranz dieser Methoden. Klar sitzen Cheney und der Rest der Bande da und erzählen, dass sie es wieder tun würden. Klar besteht die akute Gefahr, dass ein republikanischer Präsident ab 2016 die Scheiße wieder anfängt.
    Aber dass das Unrecht ist wird deutlich ausgeprochen. Und, by the way, das ist auch allen klar. Das Problem ist ja nicht die Erkenntnis, dass es sich um Unrecht handelt. Das Problem ist die Einstellung, dass dieses Unrecht „for the greater good“ zulässig wäre bzw. aufgehoben wird.
    Das größte Problem des Folterskandals ist IMHO nicht die Folter per se. Menschenrechtsverletzungen kommen im Krieg immer vor. Das Problem ist, dass es nicht Kurzschlussreaktionen Einzelner unter dem Druck des Augenblicks sind, sondern dass es sich um offen sanktionierte Regierungspolitik handelte. Hierin besteht der wahre Zivilisationsbruch.

  • Ralf 18. Dezember 2014, 18:49

    Ich habe auch nicht das Gefühl, dass dieser Eindruck erweckt wird. Keine Anklage ist nicht dasselbe wie Akzeptanz oder Toleranz dieser Methoden. Klar sitzen Cheney und der Rest der Bande da und erzählen, dass sie es wieder tun würden.

    Die Sichtweise halte ich fuer extrem problematisch. Stell Dir mal vor, man haette im Steuerhinterziehungsfall Uli Hoeness genauso argumentiert. Stell Dir vor man haette von einer Strafverfolgung abgesehen, weil Hoeness einfach zu beruehmt, beliebt und reich ist. Natuerlich haette man das nicht offen so sagen koennen. Also haette man einfach still von einer Strafverfolgung abgesehen und niemand haette sich auch nur vor die Presse gestellt und klar ausgesprochen, dass es sich bei der Steuerhinterziehung um ein schweres Verbrechen handelt. Lediglich ein paar eher wenig bekannte Hinterbaenkler im Parlament haetten hier und da in einer Talkshow angemerkt, dass Hoeness‘ Verhalten „ja nicht ganz in Ordnung war“. Zeitgleich erschiene Hoeness auf dem Bildschirm und erklaerte, er sei voll im Recht und wuerde auch in Zukunft sofort wieder Steuern hinterziehen. Seine Bank gaebe ein aehnliches Statement heraus, dass ihre Absicht bekraeftigt auch in Zukunft moeglicherweise wieder Steuerfluechtlingen zu helfen.

    Alle Steuerhinterzieher der Zukunft wuerden anschliessend auf ihre Straffreiheit pochen und (zurecht) auf den Praezendenzfall Hoeness zeigen. Mit welchem Recht klagen wir die noch an? Mit welchem Recht koennen wir die einen einsperren und die anderen laufen lassen, wenn sie das exakt gleiche Verbrechen begangen haben?

    Wuerdest Du in dem Fall auch einen Blogpost schreiben, dass wir das „Tor zur Finsternis“ dadurch schliessen sollten, dass wir nichts tun und hoffen, dass sich bei potentiellen Kriminellen der Zukunft auf freiwilliger Basis moeglicherweise hoffentlich ein Rechtsbewusstsein durchsetzt? Und wenn ja, worauf waere diese Hoffnung konkret gegruendet?

  • Stefan Sasse 18. Dezember 2014, 21:38

    An dieser Stelle sei der Hinweis gestattet, dass im Falle Hoeneß eine massive Gegenbewegung versuchte, den Rechtsverstoß moralisch zu verklären. Es lief der gleiche Mechanismus an Argumentation, nur mit dem Unterschied, dass Hoeneß eben angeklagt werden konnte, ohne dass die Konsequenzen für das wirtschaftliche oder politische System hatte, denn der Kläger war nicht Hoeneß‘ Nachfolger als Trainer, der einen anderen Spielerkader durchsetzen wollte.

    • Ralf 18. Dezember 2014, 22:13

      An dieser Stelle sei der Hinweis gestattet, dass im Falle Hoeneß eine massive Gegenbewegung versuchte, den Rechtsverstoß moralisch zu verklären.

      Eben. Aber Du wirst mir erlauben festzustellen, dass Du meiner Frage ausgewichen bist. Die Frage war, was waere wenn sich diese „Gegenbewegung“ im Falle Hoeness durchgesetzt haette? Was haette das fuer unseren Rechtsstaat bedeutet? Der naechste populaere Steuerhinterziehungsfall nach Hoeness war – ich hoffe ich erinnere mich da richtig – Alice Schwarzer. Was haette Frau Schwarzer den Steuerbehoerden und der Staatsanwaltschaft wohl geantwortet? Vermutlich haette sie gesagt „Get off my back! Bei Hoeness hat es keine Strafverfolgung gegeben, was beweist, dass Steuerhinterziehung kein verfolgungswuerdiges Verbrechen ist. Allenfalls ein Kavaliersdelikt“. Sie wuerde weiter argumentieren, dass wenn Steuerhinterziehung wirklich mehr als ein kleines unbedeutendes Kavaliersdelikt waere, dann haette der Rechststaat doch ein Verfahren eingeleitet, oder? Die Faktenlage war doch kristallklar und Hoeness gestaendig! Dann haette der Rechtsstaat doch nicht einfach zugesehen, wie der Hoeness sich ins Fernsehen stellt und nicht nur keine Reue zeigt, sondern ankuendigt in Zukunft wieder Steuern hinterziehen zu werden, oder? Und wer wollte ihr da widersprechen? Sicher keine der verantwortlichen Behoerden. Denn der Schein des Rechtsstaats haette ja aufrecht erhalten werden muessen. Wenn jemand offen ausgesprochen haette, dass Hoeness nur deshalb nicht verurteilt wurde, weil er reich und beliebt ist, haette es einen Aufschrei in der Gesellschaft gegeben!

      Haette diese Hoeness’sche Gegenbewegung gewonnen, waere folglich ein Praezendenzfall geschaffen worden, der die strafrechtliche Verfolgung von Steuerhinterziehung in der Zukunft unmoeglich gemacht haette. Man kann eben nicht den einen einsperren und den anderen laufen lassen, wenn sie das exakt gleiche Verbrechen begangen haben. In einem Rechtsstaat geht sowas offensichtlich nicht.

      Und genau dieses Problem schafft man gegenwaertig bezueglich der erfolgten Menschenrechtsverletzungen „hinter dem Tor der Finsternis“.

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