Die letzten Wochen und Monate waren für Obama nicht leicht. Der katastrophale Start der Website „healthcare.gov“, dem administrativen Herzstück der Gesundheitsreform, blockierte fast ein Vierteljahr lang jeglichen Handlungsspielraum des Weißen Hauses (das, angesichts der Kongressblockade, der einzige handlungsfähige Akteur auf Bundesebene ist). Inzwischen hat Obama die Initiative wieder ergriffen und versucht, das Thema zu ändern – in einer vielbeachteten Rede zum Thema Ungleichheit legte er dazu den Grundstein. Aber wird es ihm gelingen?
Da wäre zuerst einmal das Obamacare-Problem, das immer noch einen Großteil der Medienaufmerksamkeit und besonders der Republicans auf sich zieht. Allerdings wird das rapide zum Nicht-Thema. Die Website funktioniert inzwischen mehr schlecht als recht und täglich besser, die Versicherungsunternehmen und Pharmaproduzenten haben sich voll darauf eingestellt und würden einen repeal niemals unterstützen. Die Bevölkerung wird sich außerdem bis 2016 daran gewöhnt haben, und vor 2016 kann Obama für den unwahrscheinlichen Fall einer Kongress-Mehrheit stets sein Veto einlegen (und das auch tun, denn er muss nicht wiedergewählt werden).
Mit dem absehbaren Ende des Healthcare-Komplexes kommen andere Probleme auf Obamas Tagesordnung zurück, vor allem die Sequester-Cuts, die als Notlösung des Haushaltsstreits 2011 entstanden waren und wegen der Kongressblockade weiter bestehen bleiben. Bislang hatte Obama wenig Anstalten gemacht, gegen die Austerity-Maßnahmen anzukämpfen (sieht man einmal von einer kurzen Phase um die Wahl 2012 herum ab, in der er die Problematik zeitweise auf die Agenda setzen konnte). Mit der Inequality-Speech will er nun offensichtlich versuchen, das Thema der Diskussion zu ändern – ein längst überfälliger Zug.
Er legt in der Rede ein klares Bekenntnis dafür vor, dass die Haushaltskürzungen falsch sind, dass das Soziale Netz nicht weiter gekürzt, sondern ausgebaut werden muss und dass hierfür im Zweifel auch neue Schulden gemacht werden können und müssen. Er bezeichnete, und das ist vermutlich der entscheidenste Punkt, die Schuldenproblematik dabei ausdrücklich als ein nachrangiges Problem vor der Beseitigung der Ungleichheit. Tatsächlich ist die Besessenheit der Protagonisten der Öffentlichen Meinung mit dem Schuldenthema wohl einer der größten Mühlsteine um den Hals der Wirtschaft nicht nur der USA, sondern auch Europas.
Obama versucht nichts weniger als den allgemeinen, Austerity-freundlichen Konsens (Kürzen gut, Schulden schlecht) dahingehend zu beeinflussen, dass andere Themen wichtiger werden und die Schuldenproblematik übertrumpfen. Wenn ihm das gelingt, könnte er eine neue Ära progressiver Politik einläuten.
Dies wäre besonders für die anstehenden Wahlen 2016 von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Gelingt es Obama, den Konsens bis dahin tatsächlich so weit abzuändern, dass die Progressiven wieder den Mainstream bilden, so müssten die Kandidaten der Republicans sich alle ebenfalls zu diesen Zielen bekennen und das Land würde politisch insgesamt wieder wesentlich stärker in die Mitte rücken (oder aber die Demokraten würden einen sicheren Wahlsieg einfahren).
Derselbe Effekt ist auch hier in Europa zu sehen. Christian Lindner, Parteivorsitzender der FDP, erklärte die FDP explizit zur Nicht-Kapitalistischen Partei, die in einem Minimalstaat ausdrücklich kein politisches Ziel sehe. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass politisch mit der Reform-Rhetorik der 10er-Jahre und der Austerity-Idee kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist. Wenigstens rhetorisch muss man sich inzwischen zu einer moderateren Linie bekennen.
Natürlich existiert keinerlei Automatismus, der einen Erfolg in diese Richtung garantiert. In Deutschland ist Angela Merkel großartig darin, in verschwurbelten Formen jede Diskussion einem sanften Erstickungstod zuzuführen, und in den USA ist die Landschaft extrem stark polarisiert und das Vorurteil gegenüber einem expansiveren Staat tief verankert. Was Obama hat ist keine Erfolgsgarantie, sondern ein „Window of Opportunity“: er (und seine Gesinnungsgenossen in Europa wie der französische Präsident Hollande oder der italienische Staatschef Letta) haben überhaupt einmal die Chance, diese Ziele zu erreichen. Alles weitere wird viel vom Glück abhängen (dass keine großen Krisen dazwischen kommen) und von der politischen Manövrierfähigkeit.
(Bildnachweis: White House Photo)
Lindner ist, soviel ich weiß, noch nicht gewählt. Und inzwischen gibt es wohl eine Gegenströmung in seiner Partei, Richtung AfD.
Gibt es überhaupt so etwas wie „mitfühlenden Liberalismus“ oder ist das sowas wie Dampfeis?
Na klar. Der Sozialliberalismus hat so was ja schon versucht; auch Bushs „Compassionate Conservatism“ geht ja in die Richtung.
Lesenswert auch Paul Krugmans Reaktion auf die Rede:
„Much of the media commentary on President Obama’s big inequality speech was cynical. You know the drill: it’s yet another “reboot” that will go nowhere; none of it will have any effect on policy, and so on. But before we talk about the speech’s possible political impact or lack thereof, shouldn’t we look at the substance? Was what the president said true? Was it new? If the answer to these questions is yes — and it is — then what he said deserves a serious hearing.
And once you realize that, you also realize that the speech may matter a lot more than the cynics imagine.
First, about those truths: Mr. Obama laid out a disturbing — and, unfortunately, all too accurate — vision of an America losing touch with its own ideals, an erstwhile land of opportunity becoming a class-ridden society.
[…]“
http://www.nytimes.com/2013/12/06/opinion/krugman-obama-gets-real.html?ref=politics&_r=2&
„Na klar. Der Sozialliberalismus hat so was ja schon versucht;“
Und würde daran scheitern, dass es nun wahrlich genug sozialdemokratische Parteien gibt.
Im übrigen scheitert der vielbeschworene „mitfühlende Liberalismus“ wie auch linke Konzepte am selben Grundproblem: Das Gefühl über den Verstand zu stellen. Steckt ja schon im Namen.
Zum Begriff des “mitfühlenden Liberalismus”.
Man sollte immer daran denken, dass „neu“ das älteste Schlagwort in der Werbebranche ist. 😉
Die Begriffe “compassionate conservatism” und sogar “caring conservatism” gibt es ja auch längst.
Ich musste auch daran denken, dass ich vor Jahren einmal eine Biographie über Frau Thatcher gelesen habe;
bei der Lektüre war ein interessanter Aspekt, dass sie den, sagen wir, sozialpolitisch-engagierten Flügel der Torys, ihrer eigenen Partei, beinahe noch mehr verachtet hat, als den “ehrlichen” Sozialismus von Labour.
Das, was man in unseren Breiten wohl als christ-soziale Politik á la Blüm bezeichnen würde, lief damals unter dem Stichwort “One nation conservatism”. Frau Thatcher sprachen von diesen Vetretern als „wets“ – also „Weichlingen“…
Dabei fällt einem Liberalen natürlich auf, dass “mitfühlend/caring/compassionate” nur eine andere Wortwahl für “sozial” ist; dem propagandistischen Wieselwort schlechthin, vor dem Hayek schon gewarnt hat. 😉
Sucht man aber einen Liberalismus, der es nicht nötig hat, sich als „mitfühlend“ anzupreisen, weil er es inhärent ist; da empfehle ich den „Klassischen Liberalismus“.
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