Obama hat größere Sorgen als die NSA – seine Gesundheitsreform könnte scheitern

Die deutsche Öffentlichkeit kennt im Bezug auf die USA derzeit nur ein Thema: Die Enthüllungen Edward Snowdens über die Reichweite der NSA. “Weil er die Kontrolle seiner Geheimdienste versäumte, hat Obama […] sich in die tiefste Krise seiner Amtszeit manövriert”, schrieb Anfang der Woche Ansgar Graw in der Welt. Ich halte das für eine Fehleinschätzung.  Obama mag aus europäischer Sicht durch die Kontinuität in der Sicherheitspolitik in die tiefsten moralische Krise seiner Amtszeit geraten sein. Politisch jedoch schaden ihm derzeit viel mehr die Umsetzungsprobleme des “Affordable Care Act”, der tiefgreifenden Reform des Gesundheitsystem, oft auch “Obamacare” genannt. Die beiden Themen haben interessanterweise mehr miteinander zu tun als es auf den ersten Blick scheinen mag. Daher zunächst ein paar Worte zur NSA-Affäre.

Die Aufrüstung des Sicherheitsapparats nach dem 11. September war in der politischen Klasse Washingtons weitgehend Konsens, und ist es noch. Große Teile des Kongress haben den Patriot Act eingeführt und bestätigt, alle wesentlichen Präsidentschaftsbewerber der letzten beiden Wahlen neben Obama (McCain, Clinton, Romney) hatten sich sicherheitspolitisch rechts vom derzeigen Amtsinhaber positioniert. Alle aktuellen Programme waren bereits unter George W. Bush entstanden.

Obama hatte wohl bereits früh erkannt, dass er nur gegen große Widerstände eine Abrüstung des Sicherheitsapparats würde durchsetzen können und dass er diese Flanke dichtmachen müsste, um nicht als “weak on terror” zu erscheinen und sein politisches Kapital für wirtschafts-, sozial- und finanzpolitische Reformen nutzen zu können. Bereits in den ersten Wochen seiner ersten Amtszeit musste er im Kongress eine empfindliche Niederlage einstecken, als er das Gefangenenlager Guantanamo schließen wollte.

Nun gibt es mittlerweile auch in Washington vermehrt Stimmen, die NSA habe es zu weit getrieben. Und wer weiß, vielleicht wird sich die Debatte in Zukunft wieder in eine andere Richtung bewegen. Noch ist die Kritik jedoch verhalten und richtet sich wenn gegen zu lasche Maßnahmen gegen Spionage im Inland. Eine möglichst umfangreiche Informationsbeschaffung im Ausland betrachtet man schlicht als Job der NSA. Diesen Job, und das ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, macht die NSA scheinbar verdammt gut. Das ist erwähnenswert, denn unter den vielfältigen meist ablehnenden, manchmal zustimmenden Einschätzungen zur Arbeit der Behörde findet man eine Meinung nie: Dass sie nicht im Sinne ihrer Funktionslogik eine gute Arbeit mache. Das war – man erinnere sich an die Anschläge von New York – nicht immer so.

Und an dieser Stelle kommen wir zur Gesundheitsreform. Bei ihr geht es interessanterweise derzeit auch um Big Data. Anders als in der Sicherheitspolitik ist die Gesundheitspolitik jedoch das Feld, auf dem Obama beinahe sein gesamtes politisches Kapital investiert hat, das Demokraten und Republikaner, Linke und Rechte zutiefst spaltet und dessen Reform derzeit nicht gut funktioniert. Überhaupt nicht gut. Das Gesetz beinhaltet eine Vielzahl von Reformen, es ist über 900 Seiten lang und kann hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden.

Nur so viel: Das US-Gesundheitssystem hatte zuvor nicht nur rund 49 Millionen Menschen unversichert gelassen und viele weitere Millionen unterversichert, es ist auch mit das teuerste System der Welt gewesen: Rund 17,6% des BIP haben die Amerikaner für Gesundheit ausgegen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es ca. 11,6%, in Großbritannien nur 9,6% – bei ähnlicher Qualität.

Die Kernelemente von Obamacare erinnern an das deutsche System der Krankenversicherung: Eine Durchregulierung des weiterhin privatwirtschaftlich organisierten Versicherungsmarkts mit Mindestanforderungen an die einzelnen Angebote, eine Versicherungspflicht und Finanzierungshilfen für diejenigen, die sich keine Versicherung leisten können. Bereits vorbestehende Erkrankungen dürfen nicht mehr als Grund angeführt werden, einen Patienten nicht zu versichern, andererseits wird die Basis enorm verbreitert, indem den Versicherungen Millionen neue Kunden zugeführt werden.

Das Gesetz ist im Grunde eher konservativ, als es die Versicherungswirtschaft zwar reguliert, aber bestehen lässt. Insofern wundert es nicht, dass die Idee ursprünglich vom damaligen Massachusets-Gouverneur Mitt Romney stammt. Dennoch, es ist nachvollziehbar, wenn die Republikaner ihre ursprüngliche Position vollständig geräumt und eine Totalopposition gegen Obamas Reform in Stellung gebracht haben, die wohl ihresgleichen sucht. Denn obwohl die Demokraten explizit nicht die progressivere Variante eines Single-Payer-Systems, hierzulande bekannt als Bürgerversicherung, gewählt hatten, bedeutet Obamacare eine erhebliche Umverteilung von Reichen zu Armen und von Gesunden zu Kranken. Zudem wird die Stellung der Arbeitnehmer und Arbeiter gestärkt: Diese müssen bei einer Kündigung des Jobs nicht mehr befürchten, am nächsten Tag ohne Krankenversicherung darzustehen – alles Effekte, die Konservativen und Libertären zuwider sind.

Seit drei Jahren wird das Gesetz Stück für Stück ausgerollt, am ersten Oktober dieses Jahres trat endlich das Kernstück vom Obamacare in Kraft: Die Möglichkeit, in einem sogenannten Health-Care-Exchange nach der passenden Versicherung zu suchen und diese zu kaufen. Dafür wurde die Web-Plattform Healthcare.gov ins Leben gerufen, die jedoch schon seit Wochen kaum funktioniert. Die Anmeldung der Nutzer, die Kontrolle der Daten bei diversen Steuerbehörden und andere Teile des Backends der Seite scheinen so weit entfernt von voller Funktionstüchtigkeit zu sein, dass niemand genau sagen kann, wann das System wirklich laufen wird.

Nun wäre eine erwartbare Reaktion auf eine solche Panne vielleicht Kritik am zuständigen Ministerium, vielleicht Rücktrittforderungen gegenüber dem Minister gewesen. Zudem: Haben Versicherungsysteme früher nicht auch ohne Internetpräsenz funktioniert? “Otto von Bismarck set up an Obamacare-like system in Germany whose website didn’t work for over a century”, witzelte neulich der linksliberale Slate-Blogger Matt Yglesias.

Doch erstens ist die Seite durchaus ein zentraler Bestandteil, und hält derzeit Viele davon ab, eine Versicherung abschließen zu können und zweitens unterscheidet sich der politische Diskurs in den USA grundsätzlich von dem hierzulande. Denn, und hier gerät Obama noch mehr in die Defensive, gehen derzeit Kündigungsschreiben an eine unbekannte, aber scheinbar hohe Zahl Versicherte raus. “If you like your plan, you can keep it”, hatte Obama im Wahlkampf immer wieder versprochen. Das kann er so nicht mehr einhalten. Zwar steht im Gesetz tatsächlich nicht direkt, dass Verträge gekündigt werden müssen. Doch viele ältere Versicherungen erfüllen schlicht nicht mehr die neuen Standards, etwa weil sie ab bestimmten Behandlungskosten enorme Zuzahlungen der Patienten verlangen oder keine Vorsorgeuntersuchungen übernommen hatten. Das ist jetzt verboten.

Paradoxerweise handelt es sich bei diesen Kündigungen inhaltlich nicht um einen “Bug”, sondern ein “Feature”, aber der politische Schaden ist angerichtet. Denn in freundlichster Betrachtungsweise kann man Obamas Aussagen zwar als Missverständnis oder Oversell auffassen, aber kritischer als Wahllüge. Das kommt den Republikanern gerade recht, die mal wieder Paternalismus auf Seiten der Demokraten wittern. Im Grunde sei es gut, dass diese Versicherungen so nicht mehr möglich seien, meinen die Obamacare-Befürworter. Welche Versicherungen gut seien, sollten die Bürger selbst entscheiden, meinen die Kritiker. Und aus den Schwierigkeiten der Webseite wurde schnell wieder ein grundsätzliches Argument über die Kompetenzen und die Legitimität des Staates.

Nach dem Shutdown-Desaster, das ihnen unterirdische Umfragewerte beschert hatte, wittern die Republikaner schon Morgenluft im Vorfeld der Midterm-Wahlen im kommenden Jahr. “If he does not succeed with Obamacare, the cause of the kind of expansive liberalism, the kind of entitlement state he’s been looking for, I think will be set back a full generation.” orakelte schon der konservative Kolumnist Charles Krauthammer nicht ohne Genugtuung. So weit muss es nicht kommen, doch derzeit tauchen täglich neue Probleme bei der Implementation auf, so dass es noch über Jahre immer wieder zumindest zu öffentlichkeitswirksamen Glitches und Pannen kommen dürfte – gefundenes Fressen für die politische Rechte.

Was hat nun die Qualität von Regierungshandeln mit den Einstellungen und Interessen der entscheidenden politischen Akteure zu den Programmen zu tun? Vieles, so würde ich argumentieren: Es ist kein Zufall, dass die höchst konsensuale und von allen wesentlichen Seiten mit viel Goodwill betriebene Sicherheitspolitik so “gut” und reibungslos funktioniert (auch wenn man das in diesem Fall bedauern mag), während die tief spaltende und von der Opposition torpedierte Gesundheitsreform in Schwierigkeiten ist. Dass es zu Beginn einer Reform eines derart komplexen Systems wie dem Gesundheitsystems zu Problemen kommen kann, ist wohl unvermeidlich.

Wer sich an die sehr viel “kleineren” Reformen der Schröder-Ära erinnert, wird an eine Vielzahl an Nachbesserungen denken, die immer wieder durchgeführt werden mussten. Dieses Schrödersche Nachbessern wurde schnell polemisch instrumentalisiert, dabei ist ein gewisses Maß Iteration bei gesellschaftlichen Reformen unvermeidlich und sogar positiv zu bewerten. Diese Nachbesserungen können jedoch kaum befriedigend gelingen, wenn eine Seite ohnehin am Scheitern des gesamten Vorhabens interessiert ist und dieses vorantreibt. Dies ist bekanntlich die politische Strategie der Republikaner während der Obama-Jahre gewesen, nicht nur beim Thema Gesundheit. Durch die Mehrheit im House und viele Gouverneurssitze in den States haben sie viele Möglichkeiten und noch keine unversucht gelassen.

Dennoch, sollten die Geburtswehen nach ein paar Monaten überwunden sein und mehr und mehr neue Versicherte die Qualitäten der Reform bemerken, kann sich die politische Wetterlage wieder ändern. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg und in der Zwischenzeit hatte wohl Washington Post-Blogger Ezra Klein die beste, wenn auch nicht ganz ernstgemeinte Idee: “Maybe the NSA should just run HealthCare.Gov”.

(Crosspost von Wiesaussieht)

{ 10 comments… add one }
  • Jan Falk 2. November 2013, 20:39

    Kleiner Nachtrag. Politico hat einen guten Überblick veröffentlicht, mit welchen Mitteln die Republikaner die Reform sabotieren:

    „To the undisputed reasons for Obamacare’s rocky rollout — a balky website, muddied White House messaging and sudden sticker shock for individuals forced to buy more expensive health insurance — add a less acknowledged cause: calculated sabotage by Republicans at every step.
    That may sound like a left-wing conspiracy theory — and the Obama administration itself is so busy defending the indefensible early failings of its signature program that it has barely tried to make this case. But there is a strong factual basis for such a charge.“

    Read more: http://www.politico.com/story/2013/11/the-obamacare-sabotage-campaign-99176.html#ixzz2jWTRbdIy

  • In Dubio 4. November 2013, 09:37

    [Obamacare] bedeutet eine erhebliche Umverteilung von Reichen zu Armen und von Gesunden zu Kranken.

    Das ist der zentrale Punkt. Die amerikanische Gesellschaft – wie übrigens jede heterogene Gemeinschaft – hält nicht viel von Umverteilung. Auch in Europa wären Deutsche, Niederländer, Finnen, Briten und Österreicher nicht begeistert, sollten sie für andere Gruppen der europäischen Gemeinschaft hohe Umverteilungsbeträge aufbringen. Das grundsätzliche Missverständnis von Linken besteht darin, dass sie das familiäre Prinzip der Solidarität auf unendlich viele Menschen ausdehnen wollen. Das funktioniert jedoch immer weniger, je vielschichtiger Gemeinschaften sind. Obama zeigt sich als ein außerordentlich beratungsresistenter Präsident, unter dessen Ägide das politische Establishment bereits mehrfach an die Wand gefahren ist und in dessen Regierungszeit sich die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft weiter vertieft hat. Er hat damit jedes Ziel seiner Präsidentschaft verfehlt.

    Obama ist ein gescheiterter Präsident.

  • techniknoergler 8. November 2013, 20:38

    > “Otto von Bismarck set up an Obamacare-like system in Germany whose website didn’t work for over a century”, witzelte neulich der linksliberale Slate-Blogger Matt Yglesias.

    In dem Zusammenhang fällt mir mal wieder auf, wie reflexgetrieben politische Meinungsbildung doch ist.

    In den USA versucht die Linke Obamacare zu verteidigen, in dem man es mit dem deutschen System unter Bismarck gleichzusetzen versucht.

    In Deutschland werfen Linke der FDP vor das Krankenversicherungssystem nach amerikanischen Vorbild gestalten zu wollen. Und gemeint ist das amerikanische System mit Obamacare.

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